Woche 05 – Legitimer politischer Protest

Nach einem Jahr und einem Monat erklärt die Republikanische Partei, was der 6. Jänner 2021 tatsächlich war: legitimer politischer Protest. Das hat etwas.

© little plant / unsplash.com

Wenn ein Mob mit Gewalt das Parlament stürmt, Polizisten verletzt, Morddrohungen ausstoßend nach Politkern durch das Haus und von Büro zu Büro zieht, dann ist das also ein ganz normaler politischer Protest. Sozusagen ein Grundrecht aufrecht freiheitsliebender Amerikaner. Gelebter Verfassungspatriotismus.

Vielen Dank! Wie konnte die Welt das auch nur so sehr missverstehen?

Peking und Moskau sollten Dankesschreiben an die Republikanische Partei aufgesetzen. Wenn demnächst vielleicht russische Truppen die ukrainische Grenze überqueren, dann ist das nichts anderes als der legitime Dialog zwischen zwei Staaten. Und sollte die Volksrepublik im Laufe der nächsten Jahre Taiwan besetzen und sich einverleiben, dann ist das eine legitime Versuch, Differenzen zu beseitigen. Kein Grund, sich aufzuregen, Protest einzulegen oder was sonst noch anstünde. Es ist alles in Ordnung. Gehen Sie weiter. Hier gibt es nichts zu sehen. Das ist eine neue Qualität.

Gut, ganz so neu ist das nicht. Dafür ist es immer wieder erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit wagemutige Interpretationen abgegeben werden. Wenn zum Beispiel der frischbestellte Leiter des Kärntner Verfassungsdienstes seine Teilnahme an den Ulrichsbergtreffen der Jahre 2008 und 2010 damit rechtfertigt, man habe als ÖVP (der er damals als Klubobmann im Kärtner Landtag diente) das Treffen nicht den Rechtsextremen überlassen wollen.

Auch fesch. Da treffen einander Jahr für Jahr ehemaliger SSler, Rechtsextreme und Neonazis am Ulrichsberg, da wird diese Veranstaltung Jahr für Jahr thematisiert und kritisiert, da weiß man genau, welchem Ungeist dort gehuldigt wird, aber Herr Tauschitz und seine Partei wollen „über die Toten nicht richten“ und eine rechtsextreme Veranstung nicht den Rechtsextremen überlassen. Wenigstens letzteres ist ein mutiger Ansatz.

Wie gesagt. Hier gibt es nichts zu sehen. Man möchte meinen, die Republikanische Partei hat sich ein paar strategische Berater aus Österreich kommen lassen. Das Muster ist das gleiche. (fksk, 06.02.22)

Woche 04 – Der Verrat an Anne Frank

Seit Jahrzehnten wird gerätselt, wer das Versteck Anne Franks und ihrer Familie im Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht den Nazi-Behörden preisgab. Dieser Tage wurde ein Verdächtiger namhaft gemacht, mitsamt seines möglichen Motivs, das da wäre, sich und seine Familie vor dem Transport in die Massenvernichtungslager der Nazi zu schützen.

Anne Frank, Mai 1942
© Photo collection Anne Frank House, Amsterdam

Exakt hier stolpert man. Was hängen bleibt, ist: Jude verrät Juden. Flugs verschiebt sich die Perspektive. Schuld am Tod Anne Franks trägt, so liest sich das, ein anderer Verfolgter.

Nicht ihre Mörder.

Die Vernichtungsmaschinerie der Nazi wird unversehens zu einer Urgewalt. Namenlos und anonym. Eine Katastrophe außerhalb menschlicher Kontrolle.

Das Gegenteil ist der Fall. Alles, von der gezielten Entrechtung über die Ausplünderung bis hin zur Ermordung und Schändung der Ermordeten, war von Menschen gedacht und in die Tat umgesetzt, penibel kontrolliert und dokumentiert. Begleitet von Sympathie und Zustimmung, von Gier und Neid und Hass und Indolenz der großen Mehrheit der nichtjüdischen Bevölkerung.

Daniel Jonah Goldhagen beschreibt in „Hitlers willige Vollstrecker“ die aktive Verstrickung der Deutschen und Österreicher in die Verbrechen der Nazi. Tatsächlich ist das eines der bis heute wirksamen Merkmale dieses Regimes, dass es auch Menschen jenseits seiner Partei- und Sicherheitsstrukturen zu Mittätern machte. Indem es sie einlud, sich zu bereichern, sich zu bedienen an anderer Menschen Hab und Gut. Eine Einladung, die gerne angenommen wurde. Während der zwölfjährigen NS-Herrschaft findet der größte und umfassendste Vermögensaustausch in der deutschen und österreichischen Geschichte statt.

Wäre es nur das gewesen. Die Verstrickung geht tiefer. Eva Menasse beschäftigt sich damit in „Dunkelblum“, Elfriede Jelinek in „Rechnitz“, Pater Udo Fischer in Paudorf in seinem kleinen Museum, Hans und Tobias Hochstöger in ihrer Dokumentation „Endphase“ und die Grazer Zeitgeschichtlerin Barbara Stelzl-Marx mit Forschung unter anderem zum Todesmarsch der ungarischen Juden durch die Steiermark. Es geht um das Wissen um die Vernichtung, um Mord und Totschlag um die Tat ansich. Um die Kumpanei bis zum Schluss und bis zum Letzten.

War es zuvor noch möglich gewesen, wegzusehen, die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen, die Erniedrigungen und Deportationen auszublenden, ab 1945 war das unmöglich. Da treiben die Nazi Zehntausende Juden aus Ghettos und Todeslagern über die Landstraßen des 3. Reichs. Durch Städte, Marktflecken und Dörfer. Und die Menschen sehen sie. Sie wissen, dass sie dem Tod geweiht sind. Da und dort entledigt man sich ihrer, die Zeugnis ablegen können. In Nacht und Nebel. In den Wäldern und an den Feldrainen. Schnell, bevor die Russen kommen oder die Amerikaner.

Dann wird geschwiegen. Über Jahrzehnte hinweg wird geschwiegen.

Das „Tagebuch der Anne Frank“ hilft dabei. Ausgerechnet.

Ohne dass dies je seine Intention gewesen wäre, hilft es, die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden in eine kleine Dachkammer in den Niederlanden zu verlegen. Wer es liest, hat nicht die Massaker von Rechnitz, Schachendorf und Deutsch-Schützen, die von Heiligenbrunn, Inzenhof und Jennersdorf, von Andritz, Egelsdorf, Liebenau und Wetzelsdorf, von Präbichl, Eisenerz und Liezen, Sterning, Gunskirchen und Mauthausen vor Augen. Wie denn auch? Das Buch lenkt den Blick weg von der unmittelbaren Nachbarschaft. Und so beklemmend und ergreifend es ist, indem es das verzweifelte Bemühen beschreibt, inmitten des Wahnsinns und des Krieges, einen Hauch von Normalität und Zivilisation auftrechtzuerhalten, so verengt es den Blick auf die wenigen Quadratmeter im Hinterhaus. Ausgeblendet sind Hofamt Priel, Krems-Stein, Hartheim, Ebensee, Zipf und Kaprun – womit noch lange nicht die vielen Orte allein in Österreich aufgezählt sind, an denen vor aller Augen Menschen umgebracht wurden. Nicht nur von Parteigenossen.

Die Mörder Anne Franks und von sechs Millionen Juden haben Namen, Adresse und Gesicht. Ihnen in die Augen zu blicken, mag vielen immer noch schwerfallen, nur zu leicht lässt sich Vertrautes erkennen. Familiäres gar.

Insofern scheint die Frage nach dem Verräter der Familie Frank müßig (von Bedeutung mag sie für Otto Frank, dem einzigen Überlebenden, gewesen sein). Der Verrat an Anne Frank, an Millionen Jüdinnen und Juden und an allen anderen, die dem Hass und der Mordlust der Nazi und ihrer Helfeshelfer zum Opfer gefallen sind, fand in dem Moment statt, in dem ihnen ihre Rechte und Würde abgesprochen wurden. (fksk, 27.01.22)

Woche 03 – Eine Zumutung

Woche für Woche dasselbe Bild: Lautstark bimmelnd, läutend, trommelnd, juchzend und jauchzend bisweilen, dann und wann auch schreiend, tobend, brüllend protestieren trotzig Tausende gegen die Coronamaßnahmen. Gegen die Impfpflicht, gegen die Impfung ansich, gegen eine Weltverschwörung, die sie zu erkennen meinen. Und gegen die sie aufstehen, dicht an dicht gedrängt, gegen die Diktatur, die in ihren Augen herrscht.

Demonstration in der Schweiz © Kajetan Sumila/unsplash.com

Für Außenstehende im besten Fall ein Karneval irrationaler Narretei. Für viel mehr ein Ärgernis, eine Zumutung. Letzteres auf jeden Fall.

Unter den Demonstranten, vielmehr ihnen allen voran, marschiert durchwegs die radikale Rechte. Junge Identitäre. Alte, feiste Neonazi. Ewige Antisemiten. In der Wolle gefärbte Antidemokraten. Und ihnen folgt ein Kessel Buntes, von ehemaligen Grünpolitikerinnen über Anthroposophen, Friedensbewegten, ewig Widerständigen, Wirtschaftskritischen bis hin zu Verunsicherten, Zweifelnden und aufrichtig Besorgten.

Als Begleiterscheinung einer Pandemie ließe sich das beschreiben. Mithin als ein Phänomen, das kommt und geht, analog den Wellenbewegungen der Krankheit, als ein Pendelschlag der Frustration. Doch was sich hier samstags manifestiert, und nicht nur samstags und nicht nur in Wien, viel öfter bereits in den mittelgroßen Städten und kleinen Marktflecken der Provinz, getragen von offener und ungehemmter Aggression, ist ein Teil der Gesellschaft, der sich aus der Gesellschaft verabschiedet. Wobei letztere nicht darauf zu reagieren weiß.

Wäre es denn nicht an der Zeit, dem Treiben ein Ende zu setzen? Die Zumutung offenen Hasses und gezielter Falschmeldungen schlicht und einfach zu unterbinden, die Demonstrationen nicht länger zu genehmigen und hinzunehmen, mit aller Konsequenz gegen Verstöße vorzugehen. Eben zu zeigen, dass der Staat nicht bereit ist, alles hinzunehmen.

Nicht gelbe Judensterne mit dem Wort „Ungeimpft“, nicht Vergleiche mit den Verbrechen des NS-Regimes, nicht die Lügen, nicht die kaum verholenen Aufrufe zu Gewalt. Nicht das Belagern von Kindergärten, von Eislaufplätzen, von Spitälern. Nicht die Drohungen und Angriffe gegen Pflege- und medizinisches Personal. Nicht die Aufmärsche vor den Wohnhäusern von Lokalpolitikern.

Das Demonstrationsrecht ist ein zentraler Bestandteil unserer liberalen und demokratischen Rechtsordnung. Gehen Menschen auf die Straße, für ihre Sache einzustehen, ist das die unmittelbarste Form der Meinungsfreiheit. Dem gebührt Respekt, weswegen Manifestationen, auch wenn sie von der Mehrheit als Zumutung empfunden werden, nicht untersagt werden dürfen. Eben weil sie uns etwas zumuten. Nichts weniger als die Auseinandersetzung mit anderen Ansichten und Meinungen, mögen sie noch so verquer und empörend erscheinen.

Also Nase zu und ignorieren?

Auch das ist keine Lösung. Wenigstens keine, die zielführend ist. Jene, die da demonstrieren, machen der Mehrheitsgesellschaft ein Angebot. Und zwar genau hinzuschauen, wer da mit wem Arm in Arm marschiert. Und zu überlegen, wer in dieser disparaten Koalition ansprechbar ist, erreichbar für eine grundsätzliche Debatte. Denn über die Einführung der Impfpflicht kann, soll und muss in der Tiefe diskutiert werden. Ganz so wie über kleine und große Freiheitsbeschränkungen im Namen der Pandemiebekämpfung oder über die Rolle des Staates dabei. Diese Auseinandersetzungen sind es wert geführt zu werden. Selbst wenn sie nie zu einer einheitlichen, gemeinsamen Sichtweise führen mögen, so können sie dazu beitragen, dass die Gesellschaft ansich diskussionsbereiter wird, und in weiterer Folge Zumutungen nicht schlicht als Beleidigung betrachtet, sondern als Möglichkeit, als Anstoß, über den Tellerrand hinauszudenken, seine eigene Haltung und Meinung auf die Probe zu stellen, sich ihrer Validität zu versichern.

Gleichzeitig gilt es, klare Grenzen zu setzen und Verstöße zu exekutieren. Alles das, was oben bereits genannt wurde, was bei den Aufmärschen zusehend zur Norm wird, all die gezielte rechtsradikale Grenzüberschreitung, muss unmittelbar und in aller Konsequenz geahndet werden. Mit Anzeigen, mit Gerichtsverfahren. Selbst wenn es, um einen österreichischen Kurzzeitkanzler zu zitieren, dabei „unschöne Bilder“ geben mag. Sich nicht von falschem Verständnis oder von der Angst vor Eskalation am Nasenring vorführen zu lassen, das ist die Demokratie sich hier schuldig. Hier muss das Innenministerium aktiv werden.

Auch damit jene unter den Demonstranten, die bisher ihre Mitmarschierer entschuldigen oder ausblenden, wahrnehmen, in welcher Gesellschaft sie sich befinden. Es liegt an ihnen, diese Koalition aufzukündigen. (fksk, 23.01.22)

Woche 02 – Glaube, Erfolg und Wissenschaft

„Galilei, Darwin, Einstein: Die größen Erfolge hat die Wissenschaft immer dann erzielt, wenn Autoritäten und Gewissheiten in Frage gestellt wurden“, schreibt Ulf Poschardt, Chefredakteur der deutschen Tageszeitung „Welt“ am 13. Jänner 2022 in einem Kommentar. Michael Fleischhacker („Talk im Hangar“) wiederum twittert am 28. Dezember 2021: „Wenn man wirklich an Wissenschaft glaubt, ist Wissenschaftsskepsis Pflicht.“ Flott formulierte Sentenzen. Was Wunder, sind beide Herren doch als versierte und erfahrene Journalisten bekannt.

Albert Einstein – erfolgreich wider die Autoritäten? © Andrew George/unsplash.ccom

Nur geht es in diesem Fall nicht um die äußere Form. Es geht um die Botschaft, die beide en passant in die Welt setzen. Dem einen ist Wissenschaft eine Glaubensfrage, der andere sieht sie in Opposition zu Autoritäten, mithin mit einer zielgerichteten Agenda ausgestattet, die nach Erfolg strebt. Beide werden dem Charakter und dem Wesen der Wissenschaften damit nicht gerecht. Recht eigentlich offenbaren sie, dass die Merkmale der Wissenschaft ihnen fremd sind.

Die Sache mit dem Glauben zum Beispiel.

Religionen fußen auf dem Glauben ihrer Mitglieder. Sie entziehen sich dem Wissen und dem empirischen Beweis. Eine divine Entität, die wie auch immer exakt beschrieben, definiert und bewiesen werden könnte, wäre kein Mysterium mehr. Kein letztlich unfassbares, Verstand und Verstehen der Menschen bei weitem übersteigendes Wesen.

Das Göttliche ist konsequenterweise so nachweisbar wie homöpathische Wirkstoffe – gar nicht. Die wahrhaft Gläubigen ficht das nicht an. Im Fall von Religionen macht gerade das den Reiz aus, sich im Besitz einer tieferen, unergründbaren Wahrheit zu wissen.

Wissenschaft hingegen sucht die Welt zu ergründen, zu vermessen, zu beschreiben, logisch und analytisch zu beschreiben, zu kategorisieren – zu beweisen. Es gibt kein Mysterium der Wissenschaft, woran man glauben könnte. Mithin sind die Wissenschaften keine Frage des Glaubens und behaupten keine absolute Autorität, die über allem anderen steht. Im Gegenteil, all ihre Erkenntnisse, ihre Studien, Theorien und Gesetze sind überprüfbar, stehen bereit, falsifiziert zu werden, wenn denn eine bessere, schlüssigere Erklärung gefunden wird. Wissenschaft ist ergebnisoffen und erkenntnisgetrieben.

Also kann man ihr vertrauen, man kann ihren Stand zur Basis weiterer Überlegungen und Entscheidungen heranziehen, man kann sie würdigen. Nur, an sie glauben, das kann man nicht. Das widerspricht der Wissenschaft.

Wer nun bewusst formuliert, dass, wer an die Wissenschaft glaube, skeptisch sein müsse, impliziert, dass wissenschaftliche Erkenntnis Glaubenssache sei, der man unter Berufung auf die Skepsis einen anderen Glauben entgegensetzen kann. Mit anderen Worten: Stimmen 90 Prozent aller Studien in einer Sache überein, dann wiegen die restlichen zehn Prozent ebenso viel. Und geht die Wissenschaft von einer 99prozentigen Wahrscheinlichkeit einer Aussage aus, dann widmet Fleischhackers Glaube, der Skepsis verpflichtet, dem einen Prozent Dissens so viel Raum, dass man zum Schluss kommen könnte, die Wissenschaft sei uneins. Zum Beispiel über Ursache und Auswirkungen der Covid-Pandemie. Oder auch des Klimawandels. Das ist nicht wissenschaftliche Skepsis. Es ist unseriös.

So wie Poschardts Überlegung zu den Erfolgen der Wissenschaft ahistorisch und mit einem grundlegenden Missverständnis wissenschaftlicher Arbeit verbunden sind. Wissenschaft sieht sich nicht in Opposition zu Autoritäten und Gewissheiten. Wissenschaft ist, zumal Grundlagenforschung, erkenntnisgetrieben – und ergebnisoffen. Es war Galileis exakte, auf Beobachtung und Empirie beruhende Arbeit, die ihn zu der Aussage führte, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Opposition zu Kirche und Papst war es nicht. Dass Galilei durch seine Erkenntnisse in Widerspruch zum christlichen Weltbild geriet, ist seiner Arbeit geschuldet, nicht seinem prinzipiellen Aufbegehren wider die geistliche Autorität.

Auch Darwin hat, auf Basis exakter Beobachtungen und Analysen seine Theorie zur Evolution entwickelt. Wäre es ihm allein darum zu tun gewesen, die Autoritäten seiner Zeit herauszufordern, er hätte England nicht verlassen und die Galapagosinseln aufsuchen müssen. Gregor Mendel gar, der als erster die Grundregeln der Vererbungslehre formulierte, lebte und arbeitete im Kloster. Von wilden Ausbrüchen, Fluchten gar ist bis heute nichts bekannt. Und Albert Einsteins Relativitätstheorie wurzelt genauso wenig im Kampf gegen Gewissheiten, als vielmehr im Hinterfragen der damals evidenten und viele Forscher inspirierenden Mängel im physikalischen Modell des 19. Jahrhunderts. Was Einstein lieferte, war schlicht und einfach gute wissenschaftliche Arbeit.

Aber das treibt Poschardt auch gar nicht um, er klagt in seinem Kommentar darüber, dass die Wissenschaft sich im Zuge der Coronapandemie mit der Politik gemein gemacht habe. Er klagt darüber, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Basis ihre Erkenntnisse und Ergebnisse die Öffentlichkeit suchen. Etwa, um vor den Folgen des Klimawandels zu warnen. Oder um auf die Fragen von Medien und Regierungen zu antworten, Vorschläge zu unterbreiten, wie aus ihrer Sicht der Pandemie beizukommen sei.

Dabei ist es eine Errungenschaft, wenn Koryphäen ihres Fachs gefragt und gehört werden. Und wenn basierend auf ihrer Expertise zielgerichtet Maßnahmen beschlossen werden. Die Wirklichkeit sieht ohnedies leider anders aus und tritt gerne als Politiker vor die Presse, um die Vertreter der Wissenschaft als weltfremd abzukanzeln.

In der aktuellen „Zeit“ beschreibt die Innsbrucker Virologin Dorothee von Laer die Position vieler Forscher in Zeiten der Pandemie: „Das war ungefähr so: Man sitzt zwei Wochen auf dem Rücksitz eines Autos und der Fahrer rast auf eine Wand zu, während man hinten ständig ruft: ,Halt! Du musst bremsen, es gibt einen Bremsweg!´ Und der fährt einfach weiter.“ Was daraus folgt, liegt für sie auf der Hand, sie muss sich an die Öffentlichkeit wenden. Aus Verantwortungsgefühl heraus. Inzwischen lebt sie im Burgenland. Ihrer Sicherheit wegen. Denn Frau von Laer hat sich mit den Autoritäten in Tirol angelegt. Aber so denkt sich Herr Poschardt das nicht. Er formuliert lieber eine flotte Aussage. (fksk, 16.01.22)

Woche 01 – Lasst Fakten sprechen

Als vor einem Jahr, am 6. Jänner 2021, ein Mob das Kapitol in Washington DC stürmt, verstummt dieses Update. Das, was da vor einem Jahr geschieht, ist so unbeschreiblich, dass es an Worten fehlt, es zu fassen. Von erklären kann schon gar nicht die Rede sein. Jede Analyse klingt hohl und fahl.

Bisweilen ist Schweigen besser.

© Logan Weaver /unsplash.com

Zumal wenn das, was bisher noch als öffentlicher Diskurs galt, zusehend abgleitet in eine Frontstellung der Überzeugungen und Dogmen. Daran hapert es 2021 nun wirklich nicht. Man kann sich des Eindrucks nicht erwahren, dass der 6. Jänner den Ton für das gesamte Jahr setzt. Einerlei ob in den USA oder in Europa – oder auch in Südafrika und anderen Weltgegenden. Offenbar gilt vielen, genug geredet zu haben, jetzt schreitet man zur Tat.

Nun ist es nicht gerade journalistisch, aktuelle Geschehnisse nicht zu kommentieren, zu analysieren, einzuordnen oder zu hinterfragen. Manchmal freilich ist es besser, sich aus dem Chor herauszunehmen. Nicht die siebenhundertsechsundzwanzigste Stimme aus der hinteren Mitte zu sein, sondern einfach zuzusehen. Und versuchen, Abstand zu gewinnen. Jene Distanz, die notwendig ist, einen weiten Blick zu wahren. Das ist ein Luxus, den sich diese Plattform hier leisten kann (ein Medium, das auf Einnahmen angewiesen ist, kann sich Eskapaden dieser Art nicht erlauben).

Was sich daraus gewinnen lässt? Zuallererst die auf der Hand liegende Erkenntnis, dass die eigene Welterklärung niemandem fehlt. Zum anderen, dass es allem medialen Umbruch und der damit verbundenen ökonomischen Unsicherheiten zum Trotz ein unbändiges Bedürfnis gibt, über mediale Plattformen Einordnungen vorzunehmen, zu beschreiben, zu kommentieren und auch zu agitieren. Jedem Blickwinkel das Medium seiner Wahrheit.

Das ist die Lage. Das ist die Erwartungshaltung.

Daran ist nichts Neues. Was früher die Parteizeitungen waren, das ist heute die mediale Blase, die ihre Konsumenten in ihrer Weltsicht und -sicherheit bestätigt und ihnen jegliche Zumutung vom Leibe hält. Und ist diese nicht ganz abzuwehren, dann wird sie verunglimpft, als Lügenpresse. Oder als gekauft, voreingenommen, unter Druck gesetzt, manipuliert oder was der Möglichkeiten noch mehr sein mögen. Kurz, sie sind alles, nur wahr können sie nicht sein, dürfen sie nicht sein. Was nicht passt, wird passend gemacht.

Alles schon da gewesen, alles keine Sensation. In der Vehemenz, mit der diese Entwicklung um sich greift, liegt aber eine andere Qualität. Eine totalitäre Qualität, die selbst vor großen Blättern nicht Halt macht.

Wenn etwa ausgerechnet in der großen New York Times Redakteure, die als kontrovers gelten, gehen müssen. Wie zum Beispiel Bari Weiss, Redakteurin der Meinungsseiten, die bei der NYT einen stillen Konsens der Art konstatiert, „dass Wahrheit kein Prozess gemeinschaftlicher Entdeckung ist, sondern etwas Orthodoxes, das nur einer kleinen Gruppe von Eingeweihten bekannt ist, deren Job es ist, alle anderen zu informieren“. Oder wenn der Guardian sich einer Autorin entledigt, die die rigiden Kategorien rezenter Identitätspolitik in Frage stellt. Denn merke, gesäubert wird nicht nur von rechts. Den absoluten Wahrheitsanspruch stellt auch die Linke.

Es geht auch anders. Bislang war es, allein der Ressourcen wegen, eine vor allem amerikanische Spezialität, die von einigen deutschen Medienhäusern wie dem Spiegel oder dem Jahreszeitenverlag gleichfalls gepflegt wurde, der Faktencheck. Jene Abteilung im Haus, die jeden Artikel auf Herz und Nieren prüft, um nur keine Fehler oder Falschmeldungen in die Welt zu entlassen. Das Wiener Wochenmagazin profil hat mit faktiv einen Faktencheck eingerichtet, der Meldungen, Behauptungen und Aussagen auf den Zahn fühlt. Ein Service, welches auch die Austria Presse Agentur anbietet.

Das ist einer der vielen Aspekte verantwortungsvollen Journalismus´. Er geht den Dingen auf den faktischen Grund, vergleicht Aussagen und überprüfbare Tatsachen. Er leistet uneitel Aufklärung, indem er sich auf die Sache konzentriert und nicht auf die handelnden Personen. Das ist oftmals Kärrnerarbeit. Die Art von Arbeit, die nicht mit der großen Bühne, mit Licht, Lob, Lohnerhöhung und Auszeichnungen gedankt wird.

Und doch ist diese Arbeit essentiell, nicht nur für die Medien. Sie ist für die Gesellschaft unverzichtbar. Denn es gilt eine gemeinsame Basis zu schaffen, Wahrheiten zu definieren, über die Einigkeit besteht. Das Fundament muss außer Frage gestellt sein, über alles andere kann und darf gestritten werden.

Das klingt einfach. Ist es wenigstens derzeit aber nicht. Im Gegenteil. Es hat nicht erst der „alternativen Fakten“ aus Trumps engstem Umkreis bedurft, „meine Wahrheit“ steht seit längerem schon gegen „deine Wahrheit“. Was richtig ist, ist zu einer Anschauungssache geworden, zu einem individuellen Blickpunkt, der – selbst, wenn er in Widerspruch zu allen überprüfbaren Fakten steht – nach Anerkennung giert. Das Fundament, auf dem die Gesellschaften des Westens aufbauen, ist fragmentiert und brüchig.

Das zeigt sich bei den Demonstrationen und Aufmärschen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ebenso wie bei hitzigen Auseinandersetzungen rund um Fragen der Identitätspolitik oder des Postkolonialismus. Da wie dort fehlt es an grundlegender Übereinstimmung, um den Dissens in aller Härte und Konsequenz aber eben nicht zerstörerisch zu leben. Im Gegenteil scheint gerade die Zerstörung, die Eliminierung der Andersdenkenden zu einem vordringlichen Ziel zu werden. Um der eigenen Wahrheit zum Durchbruch und zum Sieg zu verhelfen.

Umso wichtiger ist es, dass Medien faktenbasiert arbeiten. Sie sind, nach wie vor, die wichtigsten Informationsquellen der großen Mehrheit. Sie werden Tag für Tag konsumiert, einerlei in welcher ihrer vielen Erscheinungsformen. Sie sind gelernt und es wird ihnen, nach wie vor, ein Grundvertrauen entgegengebracht. Also liegt es an den Medien, sich ihrer Position nicht nur als Übermittler von Nachrichten, sondern auch ihrer Position als Verstärker bewusst zu sein – und sich gezielt aus der Erregung herauszunehmen.

Medien sind Mittler. Sie sind keine Akteure. Das sollten sie auf gar keinen Fall sein. Getreu dem Diktum des deutschen Fernsehjournalisten Hanns-Joachim Friedrichs, wonach man einen guten Journalisten daran erkennt, dass er sich nicht mit einer Sache gemein macht. Auch nicht mit einer guten Sache. Friedrichs wird oft zitiert. Noch viel öfter wird er konkterkariert, als sich Journalisten durchaus mit einer Sache gemein machen. Aus Betroffenheit. Aus Sorge. Nach langer und reiflicher Überlegung. Um etwas zu bewirken.

Das wären die honorigen Gründe.

Die anderen wären, weil es sich einfacher lebt, weiß man sich auf einer Seite und mit ihr eines Sinnes. Oder weil es einem Zumutungen erspart, weil es lukrativ ist, oder auch weil es einfach nur befriedigt, anderen Menschen mit dem Brustton der Überzeugung zu sagen, wo es lang geht. Oder, weil es die persönliche Eitelkeit befriedigt, den Glauben stärkt, einflussreich zu sein. Und weil Emotion ebenso leicht von der Hand geht, wie sie sich konsumieren lässt.

Das heißt nicht, dass Medien frei von Meinung und Standpunkten sein sollten. Ganz im Gegenteil: Die Einordung aktueller Ereignisse und Entwicklungen muss kommentiert, gewichtet und gewertet werden. Gern mit heißem Herzen und kühlem Kopf mitreissend geschrieben, herausragend formuliert. Aber eben faktenbasiert.

Die Nachricht wiederum, die sollte, wie so oft gefordert, wie so oft betont und für sich reklamiert, der Nachricht allein verpflichtet sein. Ohne Wertung, ohne Attribute, ohne moralischen Unterton. Auch ohne Augenzwinkern zum p.t. Publikum, frei von Verbrüderung und unter-uns-Klugen-Gehabe. Freilich, dieses letzte Bild ist ein Zerrbild der Medien. So sind wir nicht, um Alexander Van der Bellen zu zitieren. So sind wir wenigstens nicht immer und nicht nur. Aber immer wieder und leider gar nicht so selten. Qualitäts- wie Boulevardmedien, der Versuchung erliegen sie alle.

Es ist an der Zeit Distanz zu üben, in aller Konsequenz. Um Fakten sprechen zu lassen. (fksk, 08.01.22)

Woche 14 – Kriegst eh alles

Was alles kein Skandal ist. In Österreich also so ziemlich alles. Zumindest das, was in Chat-Gruppen rund um den Kanzler und seine Kumpane vermeintlich vertraulich ausbaldowert wird. Mithin, wer welchen Posten wann und wie erhält. Wer Freund, wer Feind, wer steuerbar ist, welche Medien gut und welche böse. Wer wen liebt und deswegen eh alles bekommt.

© WhatsApp, Public domain, via Wikimedia Commons

© WhatsApp, Public domain, via Wikimedia Commons

Dazu das gewohnte Bild. Es sitzt der Finanzminister und Kanzlervertraute zum wiederholten Male vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss und kann sich nicht erinnern oder entschlägt sich der Antworten und lässt die oppositionelle Erregung schlicht abperlen. Als wäre nichts bekannt geworden, als müsste man sich der ungenierten Packelei nicht eigentlich in Grund und Boden schämen.

Das nun ist tatsächlich der Skandal, dass so viele Menschen in dieser Republik daran nichts Verwerfliches, nichts Skandalöses, nichts Abstoßendes, nichts Halbseidenes erkennen wollen. Weil sie es nicht erkennen.

Weil es immer schon so war. Sagen sie.

Womit sie – leider – recht haben.

Korruption und Postenschacher, Freunderlwirtschaft und Protektion, das sind keine österreichischen Erfindungen. Aber in keinem westeuropäischen Land, und noch gilt die Republik als dem Westen zugehörig, ist die Nonchalance stärker ausgeprägt, ist die Bereitschaft, Korruption als gleichsam naturgegeben zu akzeptieren und bei Gelegenheit schnell einmal zum eigenen Vorteil zu nutzen, so tief verwurzelt wie in Österreich.

Sie ist ein wesentlicher Bestandteil österreichischer Leitkultur. Seit Habsburgs Zeiten.

Man hat sich mit und in ihr behaglich eingerichtet. Hier ein kleiner Gefallen, dort ein wenig wegschauen. Das Wissen, wem man womit und wann am besten kommen kann. Die kleine Gefälligkeit eben, die ihrerseits eine weitere erfordert oder wenigstens vorbereitet. Wollte man freundlich sein, bezeichnete man das alles also als ein wenig schlampert. Österreichisch eben. Man nimmt es halt nicht so genau, um umso genauer auf den eigenen Vorteil achten zu können.

Es sagte der Kanzler, der einen neuen Stil verkündete, er habe das System nicht erfunden. Er kenne aber auch kein anderes. Weswegen er das System einfach fortsetze und forciere. Das sagt er dann nicht. Wohlweislich. Aber es konnte ihn jeder verstehen.

Und damit wäre denn auch alles wie es immer ist in Österreich. Wäre, wäre da nicht die Tonalität der Dialoge, wäre da nicht die Unverfrorenheit, die aus jeder Nachricht spricht, die unverholene Geringschätzung allen Normen gegenüber. Wäre da nicht der Umstand, dass eine Truppe, die nach einem Jahr Pandemie und Rezession das Krisenmanagement nicht und nicht beherrscht, meint, mit allem Recht die Republik nach ihrem Gutdünken gestalten zu dürfen. Und wäre da nicht der Umstand, dass diese Truppe und ihre Adoranten Kritik und kritische Betrachtung geradezu hysterisch als Majestätsbeleidigung, als Schmutzkübelei und Nestbeschmutzung werten.

Es mag das Zuschanzen und interne Abtauschen samt und sonders noch irgendwie im Rahmen der Gesetze abgehen, es mag strafrechtlich nichts davon relevant sein und nie und nimmer für eine Anklage vor Gericht genügen, es ist gerade des Tonfalls der Selbstgefälligkeit und Selbstverliebtheit wegen vielleicht doch ein Wendepunkt.

Von nun an lässt sich der neue Stil des Kanzlers und seiner Freunde in seine Worte kleiden, in ein „Kriegst eh alles“ und ein „Ich liebe meinen Kanzler“. Das bleibt ihm, so wie seinem einstigen Vizekanzler der verbale Machtrausch auf Ibiza auf ewig anhaftet. Es bleibt ihm und seinen Freunden, bis der allgemeine Überdruß daran Konsequenzen nach sich zieht. Die Konsequenz, einen Skandal als Skandal auch zu erkennen, zu benennen – und zu sanktionieren.

Damit endlich wieder Ruhe, die noch mächtigere Konstante österreichischer Leitkultur, einkehrt. (fksk, 8.4.21)

Woche 51 – Die Wiederholung macht die Wahrheit

Eine Auszeichnung für Sucharit Bhakdi. Es mag zwar das „Goldene Brett vorm Kopf“ sein und mithin ein Schmähpreis für den größten unwissenschaftlichen Unsinn des Jahres, aber – es ist ein Preis. Es ist Aufmerksamkeit, Beachtung, Reichweite und Scheinwerferlicht.

© Kristina Flour / unsplash.com

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Man kann davon ausgehen, dass der Preisträger sich bestätigt und anerkannt fühlt. In der dieser Tage durchaus begehrten Position als Ausgegrenzter (wiewohl gefragter Dauergast in TV-Diskussionen), als jemand, der die Wahrheit kennt. Vor allem darf er sich freuen, als die Meldung in den Medien (auch in diesem) ihm einen weiteren Schub an Bekanntheit verschafft. Mithin auch seinen Thesen.

So können beide Seiten sich denn zufrieden zeigen. Die Jury hat Flagge gezeigt. Er hat Öffentlichkeit. Wobei letzteres möglicherweise nicht die Intention der Preisverleiher war. Was denn auch eine Schwachstelle dieser Auszeichnung ist.

Sie markiert, ist ein Hinweis, ein Etikett. In gewisser Weise sorgt sie gerade für jene Beachtung, die sie im Grunde kritisiert.

Freilich, die Intention, unwissenschaftlichen Unsinn als solchen zu benennen, ist prinzipiell jede Unterstützung wert. Bisweilen indes erscheint das schlichte Ignorieren die bessere Wahl zu sein.

Wenigstens will Tom Buchanan, Professor für Psychologie an der University of Westminster, diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen wissen. In seinem aktuellen Beitrag „How to reduce the spread of fake news – by doing nothing“ auf der Website „The Conversation“ fokussiert er in erster Linie auf den Bereich der Social Media, die wie kein anderes Trägermedium für die Verbreitung kühner Thesen wie auch abstruser Verschwörungsmythen und blanker Lügen geeignet sind. Ein Ausschuss des britischen Parlaments stellte 2017 fest, dass online verbreitete Desinformation „das Grundgerüst unserer Demokratie“ gefährde.

Zum Besseren hat sich seither nichts gewandelt. Und partout der Widerspruch, das sich Einlassen auf wilde Argumentationen, trägt zu ihrer immer schnelleren Verbreitung bei. Jeder Klick, jede Interaktion erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der kritisierte Post, das hanebüchene Gedankenkonstrukt durch den Algorithmus höher gereiht und noch mehr Menschen gezeigt wird. Das Bemühen, Gerüchten und haltlosen Mutmaßungen den Boden zu entziehen, schlägt in sein Gegenteil um und öffnet Zugang zu noch mehr Publikum.

„Das“, so Buchanan, „ist wichtig: Je mehr Menschen den Post sehen oder je öfter sie ihn wahrnehmen, desto stärker ist seine Wirkung.“ In einer Studie, die Buchanan im Oktober 2020 auf PLOS ONE veröffentlichte, untersuchte er den Umgang von 2.634 Teilnehmern mit online verbreiteter Falschinformation. Das Gros der Ergebnisse, hält er fest, sei weiter nicht überraschend gewesen. Bis auf zwei: „Einige teilten absichtlich politische Informationen, von denen sie wussten, dass sie unwahr waren. Dafür kann es mehrere Gründe geben (etwa, der Versuch, die zu entlarven). Der zweite Aspekt, der auffiel, war, dass die Bereitschaft Material zu teilen höher war, wenn die Menschen dachten, sie hätten es schon einmal gesehen“.

Ein US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2018 stützt diese Beobachtung. Stoßen User wiederholt auf Social Media auf Unwahrheiten, bewerten sie sie als glaubwürdig und akkurat. Und dies sogar, wenn Tweets und Inhalte – wie im Fall des abgewählten Donald Trump – von den Betreibern der Plattform explizit als unwahr gekennzeichnet werden.

Die Wiederholung macht die Wahrheit. Nicht die Fakten.

Ein Teufelskreis also, der sich immer schneller dreht und für den noch kein adäquater Umgang gefunden worden ist. Es sei denn, man beherrscht sich und lässt bewusst manche Thesen, Provokationen, Rüpeleien und Unterstellungen schlicht ins Leere laufen. Indem man sich der Interaktion, dem Klick, dem Kommentieren verweigert. Nicht immer und auf jeden Fall. Aber doch öfter und bewusster.

So gesehen ist die Wahl für das heurige „Goldene Brett vorm Kopf“ ein Fehlgriff. Dieser der Auszeichnung im Grunde so würdige Preisträger braucht keinesfalls noch mehr Aufmerksamkeit. (fksk/22.12.20)

Woche 50 – Religion und Rosinenpicken

Es wurde gebetet im Nationalrat. Auf Einladung des Nationalratspräsidenten, strikt überkonfessionell aber mit maximaler Öffentlichkeitswirkung. Denn es war ein ostentatives Beten, welches geradezu nach ebenso lauter Kritik verlangte. Die ließ nicht lange auf sich warten.

© Valdimir Soares / unsplash.com

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Weder sei der Nationalrat der rechte Ort für eine religiöse Zusammenkunft, schon gar nicht, wenn dafür vielleicht gar öffentliche Gelder aufgewendet wurden (was noch der Klärung bedarf), vor allem aber, und das wiegt schwer, sei es ein politisches Statement, welches da auf religiös strikt neutralem Boden getätigt worden ist. Es rieche streng nach politischem Katholizismus oder wenigstens nach politischem Christentum und erinnere mithin an die unseligen Zeiten, als die katholische Kirche in Österreich ein maßgeblicher politischer Akteur war. Ignaz Seipel, der Prälat ohne Gnade, Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg lassen grüßen.

Das wiegt wirklich schwer.

Ganz so wie der Hinweis darauf, dass Religion und Politik in der Republik nun einmal seit 1945 aus gutem Grund getrennte Wege gehen.

Hätte der Hinweis darauf nur nicht einen kleinen Haken. Denn gerade der ÖVP, die sich als christlich-soziale Partei definiert, wird ein ums andere Mal empfohlen, sich dieser ihrer Wurzeln zu besinnen, geht es um den Umgang mit den Schwachen der Gesellschaft, mit Flüchtlingen und Migranten. Da steht der christliche Gedanke der Caritas hoch im Kurs. Weil er wahrhaft, gut und edel ist.

Allein, das ist Rosinenpicken. Wer christliche oder konkreter, katholische, Grundsätze einfordert, muss alles, was damit einhergeht, billigend in Kauf nehmen. Die katholische Kirche lässt sich nicht allein auf die Caritas reduzieren, auf Persönlichkeiten wie Kardinal König, Monsignore Bauer oder Prälat Unger. Sie ist ebenso Heimstatt von Kardinal Groer, Bischof Krenn und des Opus Dei. Sie ist nicht nur mild- und wohltätig, sie ist auch eisern in ihren Grundsätzen. Sie vertritt mal stoisch dann wieder kämpferisch Positionen wider die Abtreibung, gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, sie ist durch und durch konservativ, obrigkeitsgläubig und dogmatisch.

Dass sie sich seit mehr als 70 Jahren weitgehend aus dem politischen Geschehen heraushält, ist, historisch betrachtet, eine Anomalie.

Zeit ihrer Existenz war die Kirche eine politische Kraft. Über weite Strecken dominant, mal offensiv, dann wieder etwas verhaltener. Aber es ist die europäische Geistesgeschichte so wenig ohne sie und die Konflikte mit ihr zu denken und zu verstehen wie die politische und gesellschaftliche Geschichte des Kontinents.

Dass ihre Oberhoheit zurückgedrängt werden konnte, das ist allein Verdienst der Aufklärung, die gegen den massiven Widerstand der Kirche vonstatten ging. Und – der Brüche des 20. Jahrhunderts.

Dennoch, so säkular Europas Westen sich heute gibt, die Kirche ist ein eminent politischer Faktor geblieben. Sei es im Ringen um die Legalisierung der Abtreibung, um das Eherecht oder um soziale Fragen. Auf Positionen, auch auf prononcierte Positionen, hat sie bei aller Zurückhaltung nie verzichtet. Sie ist, und das kann durchaus als Wert betrachtet und geschätzt werden, ein Stachel im Fleisch der Gesellschaft, insofern als sie ihre Agenda, ihre Werte nicht so schnell aufgibt.

Das kann in einer demokratischen Debattenkultur durchaus als bereichernde Zumutung wahrgenommen werden.

So lange die Kirche nicht als tagespolitischer Akteur auftritt.

Werden sie und Teile ihrer Lehre freilich politisch aufgerufen, dann darf man sich nicht wundern, wenn auch andere Teile ihrer Lehre im politischen Gewand wiederkehren. Erst einmal nur als Gebetskreis im Nationalrat. Und in einem nächsten Schritt weit darüber hinaus.

Die Distanz hat bisher allen gut getan. Es wäre klug, sie unter allen Umständen beizubehalten – auch, um anderen Religionsgemeinschaften, zumal der islamischen, unmissverständlich zu signalisieren, dass Staat und Glaube voneinander getrennt sind. Strikt getrennt. (fksk/14.12.20)