Dunkelblum

Woche 04 – Der Verrat an Anne Frank

Seit Jahrzehnten wird gerätselt, wer das Versteck Anne Franks und ihrer Familie im Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht den Nazi-Behörden preisgab. Dieser Tage wurde ein Verdächtiger namhaft gemacht, mitsamt seines möglichen Motivs, das da wäre, sich und seine Familie vor dem Transport in die Massenvernichtungslager der Nazi zu schützen.

Anne Frank, Mai 1942
© Photo collection Anne Frank House, Amsterdam

Exakt hier stolpert man. Was hängen bleibt, ist: Jude verrät Juden. Flugs verschiebt sich die Perspektive. Schuld am Tod Anne Franks trägt, so liest sich das, ein anderer Verfolgter.

Nicht ihre Mörder.

Die Vernichtungsmaschinerie der Nazi wird unversehens zu einer Urgewalt. Namenlos und anonym. Eine Katastrophe außerhalb menschlicher Kontrolle.

Das Gegenteil ist der Fall. Alles, von der gezielten Entrechtung über die Ausplünderung bis hin zur Ermordung und Schändung der Ermordeten, war von Menschen gedacht und in die Tat umgesetzt, penibel kontrolliert und dokumentiert. Begleitet von Sympathie und Zustimmung, von Gier und Neid und Hass und Indolenz der großen Mehrheit der nichtjüdischen Bevölkerung.

Daniel Jonah Goldhagen beschreibt in „Hitlers willige Vollstrecker“ die aktive Verstrickung der Deutschen und Österreicher in die Verbrechen der Nazi. Tatsächlich ist das eines der bis heute wirksamen Merkmale dieses Regimes, dass es auch Menschen jenseits seiner Partei- und Sicherheitsstrukturen zu Mittätern machte. Indem es sie einlud, sich zu bereichern, sich zu bedienen an anderer Menschen Hab und Gut. Eine Einladung, die gerne angenommen wurde. Während der zwölfjährigen NS-Herrschaft findet der größte und umfassendste Vermögensaustausch in der deutschen und österreichischen Geschichte statt.

Wäre es nur das gewesen. Die Verstrickung geht tiefer. Eva Menasse beschäftigt sich damit in „Dunkelblum“, Elfriede Jelinek in „Rechnitz“, Pater Udo Fischer in Paudorf in seinem kleinen Museum, Hans und Tobias Hochstöger in ihrer Dokumentation „Endphase“ und die Grazer Zeitgeschichtlerin Barbara Stelzl-Marx mit Forschung unter anderem zum Todesmarsch der ungarischen Juden durch die Steiermark. Es geht um das Wissen um die Vernichtung, um Mord und Totschlag um die Tat ansich. Um die Kumpanei bis zum Schluss und bis zum Letzten.

War es zuvor noch möglich gewesen, wegzusehen, die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen, die Erniedrigungen und Deportationen auszublenden, ab 1945 war das unmöglich. Da treiben die Nazi Zehntausende Juden aus Ghettos und Todeslagern über die Landstraßen des 3. Reichs. Durch Städte, Marktflecken und Dörfer. Und die Menschen sehen sie. Sie wissen, dass sie dem Tod geweiht sind. Da und dort entledigt man sich ihrer, die Zeugnis ablegen können. In Nacht und Nebel. In den Wäldern und an den Feldrainen. Schnell, bevor die Russen kommen oder die Amerikaner.

Dann wird geschwiegen. Über Jahrzehnte hinweg wird geschwiegen.

Das „Tagebuch der Anne Frank“ hilft dabei. Ausgerechnet.

Ohne dass dies je seine Intention gewesen wäre, hilft es, die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden in eine kleine Dachkammer in den Niederlanden zu verlegen. Wer es liest, hat nicht die Massaker von Rechnitz, Schachendorf und Deutsch-Schützen, die von Heiligenbrunn, Inzenhof und Jennersdorf, von Andritz, Egelsdorf, Liebenau und Wetzelsdorf, von Präbichl, Eisenerz und Liezen, Sterning, Gunskirchen und Mauthausen vor Augen. Wie denn auch? Das Buch lenkt den Blick weg von der unmittelbaren Nachbarschaft. Und so beklemmend und ergreifend es ist, indem es das verzweifelte Bemühen beschreibt, inmitten des Wahnsinns und des Krieges, einen Hauch von Normalität und Zivilisation auftrechtzuerhalten, so verengt es den Blick auf die wenigen Quadratmeter im Hinterhaus. Ausgeblendet sind Hofamt Priel, Krems-Stein, Hartheim, Ebensee, Zipf und Kaprun – womit noch lange nicht die vielen Orte allein in Österreich aufgezählt sind, an denen vor aller Augen Menschen umgebracht wurden. Nicht nur von Parteigenossen.

Die Mörder Anne Franks und von sechs Millionen Juden haben Namen, Adresse und Gesicht. Ihnen in die Augen zu blicken, mag vielen immer noch schwerfallen, nur zu leicht lässt sich Vertrautes erkennen. Familiäres gar.

Insofern scheint die Frage nach dem Verräter der Familie Frank müßig (von Bedeutung mag sie für Otto Frank, dem einzigen Überlebenden, gewesen sein). Der Verrat an Anne Frank, an Millionen Jüdinnen und Juden und an allen anderen, die dem Hass und der Mordlust der Nazi und ihrer Helfeshelfer zum Opfer gefallen sind, fand in dem Moment statt, in dem ihnen ihre Rechte und Würde abgesprochen wurden. (fksk, 27.01.22)