Die ZEIT

Woche 02 – Glaube, Erfolg und Wissenschaft

„Galilei, Darwin, Einstein: Die größen Erfolge hat die Wissenschaft immer dann erzielt, wenn Autoritäten und Gewissheiten in Frage gestellt wurden“, schreibt Ulf Poschardt, Chefredakteur der deutschen Tageszeitung „Welt“ am 13. Jänner 2022 in einem Kommentar. Michael Fleischhacker („Talk im Hangar“) wiederum twittert am 28. Dezember 2021: „Wenn man wirklich an Wissenschaft glaubt, ist Wissenschaftsskepsis Pflicht.“ Flott formulierte Sentenzen. Was Wunder, sind beide Herren doch als versierte und erfahrene Journalisten bekannt.

Albert Einstein – erfolgreich wider die Autoritäten? © Andrew George/unsplash.ccom

Nur geht es in diesem Fall nicht um die äußere Form. Es geht um die Botschaft, die beide en passant in die Welt setzen. Dem einen ist Wissenschaft eine Glaubensfrage, der andere sieht sie in Opposition zu Autoritäten, mithin mit einer zielgerichteten Agenda ausgestattet, die nach Erfolg strebt. Beide werden dem Charakter und dem Wesen der Wissenschaften damit nicht gerecht. Recht eigentlich offenbaren sie, dass die Merkmale der Wissenschaft ihnen fremd sind.

Die Sache mit dem Glauben zum Beispiel.

Religionen fußen auf dem Glauben ihrer Mitglieder. Sie entziehen sich dem Wissen und dem empirischen Beweis. Eine divine Entität, die wie auch immer exakt beschrieben, definiert und bewiesen werden könnte, wäre kein Mysterium mehr. Kein letztlich unfassbares, Verstand und Verstehen der Menschen bei weitem übersteigendes Wesen.

Das Göttliche ist konsequenterweise so nachweisbar wie homöpathische Wirkstoffe – gar nicht. Die wahrhaft Gläubigen ficht das nicht an. Im Fall von Religionen macht gerade das den Reiz aus, sich im Besitz einer tieferen, unergründbaren Wahrheit zu wissen.

Wissenschaft hingegen sucht die Welt zu ergründen, zu vermessen, zu beschreiben, logisch und analytisch zu beschreiben, zu kategorisieren – zu beweisen. Es gibt kein Mysterium der Wissenschaft, woran man glauben könnte. Mithin sind die Wissenschaften keine Frage des Glaubens und behaupten keine absolute Autorität, die über allem anderen steht. Im Gegenteil, all ihre Erkenntnisse, ihre Studien, Theorien und Gesetze sind überprüfbar, stehen bereit, falsifiziert zu werden, wenn denn eine bessere, schlüssigere Erklärung gefunden wird. Wissenschaft ist ergebnisoffen und erkenntnisgetrieben.

Also kann man ihr vertrauen, man kann ihren Stand zur Basis weiterer Überlegungen und Entscheidungen heranziehen, man kann sie würdigen. Nur, an sie glauben, das kann man nicht. Das widerspricht der Wissenschaft.

Wer nun bewusst formuliert, dass, wer an die Wissenschaft glaube, skeptisch sein müsse, impliziert, dass wissenschaftliche Erkenntnis Glaubenssache sei, der man unter Berufung auf die Skepsis einen anderen Glauben entgegensetzen kann. Mit anderen Worten: Stimmen 90 Prozent aller Studien in einer Sache überein, dann wiegen die restlichen zehn Prozent ebenso viel. Und geht die Wissenschaft von einer 99prozentigen Wahrscheinlichkeit einer Aussage aus, dann widmet Fleischhackers Glaube, der Skepsis verpflichtet, dem einen Prozent Dissens so viel Raum, dass man zum Schluss kommen könnte, die Wissenschaft sei uneins. Zum Beispiel über Ursache und Auswirkungen der Covid-Pandemie. Oder auch des Klimawandels. Das ist nicht wissenschaftliche Skepsis. Es ist unseriös.

So wie Poschardts Überlegung zu den Erfolgen der Wissenschaft ahistorisch und mit einem grundlegenden Missverständnis wissenschaftlicher Arbeit verbunden sind. Wissenschaft sieht sich nicht in Opposition zu Autoritäten und Gewissheiten. Wissenschaft ist, zumal Grundlagenforschung, erkenntnisgetrieben – und ergebnisoffen. Es war Galileis exakte, auf Beobachtung und Empirie beruhende Arbeit, die ihn zu der Aussage führte, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Opposition zu Kirche und Papst war es nicht. Dass Galilei durch seine Erkenntnisse in Widerspruch zum christlichen Weltbild geriet, ist seiner Arbeit geschuldet, nicht seinem prinzipiellen Aufbegehren wider die geistliche Autorität.

Auch Darwin hat, auf Basis exakter Beobachtungen und Analysen seine Theorie zur Evolution entwickelt. Wäre es ihm allein darum zu tun gewesen, die Autoritäten seiner Zeit herauszufordern, er hätte England nicht verlassen und die Galapagosinseln aufsuchen müssen. Gregor Mendel gar, der als erster die Grundregeln der Vererbungslehre formulierte, lebte und arbeitete im Kloster. Von wilden Ausbrüchen, Fluchten gar ist bis heute nichts bekannt. Und Albert Einsteins Relativitätstheorie wurzelt genauso wenig im Kampf gegen Gewissheiten, als vielmehr im Hinterfragen der damals evidenten und viele Forscher inspirierenden Mängel im physikalischen Modell des 19. Jahrhunderts. Was Einstein lieferte, war schlicht und einfach gute wissenschaftliche Arbeit.

Aber das treibt Poschardt auch gar nicht um, er klagt in seinem Kommentar darüber, dass die Wissenschaft sich im Zuge der Coronapandemie mit der Politik gemein gemacht habe. Er klagt darüber, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Basis ihre Erkenntnisse und Ergebnisse die Öffentlichkeit suchen. Etwa, um vor den Folgen des Klimawandels zu warnen. Oder um auf die Fragen von Medien und Regierungen zu antworten, Vorschläge zu unterbreiten, wie aus ihrer Sicht der Pandemie beizukommen sei.

Dabei ist es eine Errungenschaft, wenn Koryphäen ihres Fachs gefragt und gehört werden. Und wenn basierend auf ihrer Expertise zielgerichtet Maßnahmen beschlossen werden. Die Wirklichkeit sieht ohnedies leider anders aus und tritt gerne als Politiker vor die Presse, um die Vertreter der Wissenschaft als weltfremd abzukanzeln.

In der aktuellen „Zeit“ beschreibt die Innsbrucker Virologin Dorothee von Laer die Position vieler Forscher in Zeiten der Pandemie: „Das war ungefähr so: Man sitzt zwei Wochen auf dem Rücksitz eines Autos und der Fahrer rast auf eine Wand zu, während man hinten ständig ruft: ,Halt! Du musst bremsen, es gibt einen Bremsweg!´ Und der fährt einfach weiter.“ Was daraus folgt, liegt für sie auf der Hand, sie muss sich an die Öffentlichkeit wenden. Aus Verantwortungsgefühl heraus. Inzwischen lebt sie im Burgenland. Ihrer Sicherheit wegen. Denn Frau von Laer hat sich mit den Autoritäten in Tirol angelegt. Aber so denkt sich Herr Poschardt das nicht. Er formuliert lieber eine flotte Aussage. (fksk, 16.01.22)

Woche 38 – Boris haut auf den Putz

Ach, Boris. Letzte Woche entdeckt ZEIT-Redakteur Jan Ross den britischen Premier als Retter des bürgerlichen Konservativismus (Die Zeit N° 38/10.9.20) und beschreibt all die konstruktiven, optimistischen und bürgerlich-liberalen Charaktereigenschaften des obersten Torys. Und mit ihnen beschreibt er den europaweiten Niedergang des bisher existenten bürgerlich-konservativen Lagers.

Also jenes breiten Weltanschauungsdachs, „unter dem Unternehmer (dank des Gegensatzes zum atheistischen Marxismus), Gewerkschafter (wegen der christlichen Soziallehre) und Bildungsbürger (als Adressaten des Gymnasialhumanismus) gleichermaßen Platz fanden“.

© annie spratt / unsplash.com

© annie spratt / unsplash.com

Boris Johnson, so Ross, sei zu der Schlüsselfigur einen „Volkskonservativen“ geworden. Mithin zu einem Hoffnungsträger. Ein rares Lob, von Ross mit Vorbehalten unterbreitet.

Die Vorsicht war begründet. Denn der von Ross Gelobte will nun den, von ihm verhandelten und unterzeichneten, Austrittsvertrag mit der Europäischen Union nicht mehr einhalten. Weil, so Premier Johnson, dieser Vertrag eine Grenze innerhalb des Vereinigten Königreichs zur Folge habe. Weil, so Boris Johnson weiter, die EU somit die Möglichkeit habe, das Königreich zu zerlegen. Stück für Stück.

Es ging und es geht immer nur um die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Und es geht um das Karfreitagsabkommen, durch das der jahrzehntedauernde Bürgerkrieg im Norden der Insel beendet werden konnte – wobei gerade die offene Grenze eine wesentliche Rolle spielte. Eine offene Grenze, die dank der Europäischen Union offen sein konnte. Auch weil niemand sich vorstellen konnte oder wollte, dass das Vereinigte Königreich aus der Union austreten würde.

Seit der Abstimmung 2016 geht es in allen Verhandlungen immer und immer wieder um die Frage, wie die Grenze zwischen dem Norden und dem Rest der Insel – so wie im Karfreitagsabkommen festgehalten – eine offene Grenze bleibt. Was nun verhandelt wurde läuft in gewisser Weise auf die alte Lösung mit dem Kleinwalsertal hinaus. Die österreichische Exklave zählte in Wirtschaftsfragen zu Deutschland, politisch zu Österreich.

Für Boris Johnson ein Affront. Der Startschuss, Großbritannien in seine Einzelteile zu zerlegen.

Also poltert er, legt dem Parlament ein Gesetz vor, welches im Widerspruch zum Austrittsvertrag steht. Erklärt letztlich aller Welt, dass Verträge, die das Königreich abschließt, vom Königreich nicht als bindend betrachtet werden.

Das kennt man. Von Potentaten, autoritären Figuren, ja, auch Diktatoren. Rechtssicherheit ist ein hohes Gut. Darauf will Verlass sein. Darauf muss Verlass sein. Vertragstreue ist das essentielle Element des Völkerrechts. Dieses baut nicht auf Strafen oder Sanktionen auf, sondern auf Vertrauen. Auf Dialog, Debatte, Auseinandersetzung.

Allesamt langwierige Verfahren.

Boris Johnson aber braucht schnell einen Erfolg. Er braucht einen Gassenhauer, einen Top-of-the-Pop-Nummer-1-Hit in der politischen Arena, denn ihm steht das Wasser bis zum Hals. Londons Brücken bröckeln, Corona legt das Königreich lahm, Schottland drängt zum Exit und dem Pfund ging es auch schon besser. Zudem liegt der neue Labour Chef, Keir Starmer, in den Umfragewerten weit voran.

Also haut Boris auf den Putz. Ohne Rücksicht auf Verluste an Vertrauen.

Boris ist dabei nicht alleine. Auch Konservative anderer Länder nehmen es mit Normen, Gesetzen, Vorschriften und Vereinbarungen nicht mehr allzu streng.

Doch Großbritannien ist ein anderes Kaliber. Es ist Atommacht, Ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats und – gemeinsam mit den USA – einer der Architekten jener völkerrechtlichen Ordnung, die nach 1945 errichtet wurde. Eine Struktur, die bei allen Fehlern, Makeln und Schwächen, für ein weitgehend gedeihliches Zusammenleben auf diesem Planeten sorgt. Weil man ihr vertraut.

Wenn Großbritannien sich nicht mehr an Verträge hält, aus welchen Gründen sollten sich dann andere noch an Verträge und Normen halten?

Konservativ ist das nicht. Jan Ross muss einen anderen Hoffnungsträger suchen. (fksk/20.9.20)