Ach, Boris. Letzte Woche entdeckt ZEIT-Redakteur Jan Ross den britischen Premier als Retter des bürgerlichen Konservativismus (Die Zeit N° 38/10.9.20) und beschreibt all die konstruktiven, optimistischen und bürgerlich-liberalen Charaktereigenschaften des obersten Torys. Und mit ihnen beschreibt er den europaweiten Niedergang des bisher existenten bürgerlich-konservativen Lagers.
Also jenes breiten Weltanschauungsdachs, „unter dem Unternehmer (dank des Gegensatzes zum atheistischen Marxismus), Gewerkschafter (wegen der christlichen Soziallehre) und Bildungsbürger (als Adressaten des Gymnasialhumanismus) gleichermaßen Platz fanden“.
Boris Johnson, so Ross, sei zu der Schlüsselfigur einen „Volkskonservativen“ geworden. Mithin zu einem Hoffnungsträger. Ein rares Lob, von Ross mit Vorbehalten unterbreitet.
Die Vorsicht war begründet. Denn der von Ross Gelobte will nun den, von ihm verhandelten und unterzeichneten, Austrittsvertrag mit der Europäischen Union nicht mehr einhalten. Weil, so Premier Johnson, dieser Vertrag eine Grenze innerhalb des Vereinigten Königreichs zur Folge habe. Weil, so Boris Johnson weiter, die EU somit die Möglichkeit habe, das Königreich zu zerlegen. Stück für Stück.
Es ging und es geht immer nur um die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Und es geht um das Karfreitagsabkommen, durch das der jahrzehntedauernde Bürgerkrieg im Norden der Insel beendet werden konnte – wobei gerade die offene Grenze eine wesentliche Rolle spielte. Eine offene Grenze, die dank der Europäischen Union offen sein konnte. Auch weil niemand sich vorstellen konnte oder wollte, dass das Vereinigte Königreich aus der Union austreten würde.
Seit der Abstimmung 2016 geht es in allen Verhandlungen immer und immer wieder um die Frage, wie die Grenze zwischen dem Norden und dem Rest der Insel – so wie im Karfreitagsabkommen festgehalten – eine offene Grenze bleibt. Was nun verhandelt wurde läuft in gewisser Weise auf die alte Lösung mit dem Kleinwalsertal hinaus. Die österreichische Exklave zählte in Wirtschaftsfragen zu Deutschland, politisch zu Österreich.
Für Boris Johnson ein Affront. Der Startschuss, Großbritannien in seine Einzelteile zu zerlegen.
Also poltert er, legt dem Parlament ein Gesetz vor, welches im Widerspruch zum Austrittsvertrag steht. Erklärt letztlich aller Welt, dass Verträge, die das Königreich abschließt, vom Königreich nicht als bindend betrachtet werden.
Das kennt man. Von Potentaten, autoritären Figuren, ja, auch Diktatoren. Rechtssicherheit ist ein hohes Gut. Darauf will Verlass sein. Darauf muss Verlass sein. Vertragstreue ist das essentielle Element des Völkerrechts. Dieses baut nicht auf Strafen oder Sanktionen auf, sondern auf Vertrauen. Auf Dialog, Debatte, Auseinandersetzung.
Allesamt langwierige Verfahren.
Boris Johnson aber braucht schnell einen Erfolg. Er braucht einen Gassenhauer, einen Top-of-the-Pop-Nummer-1-Hit in der politischen Arena, denn ihm steht das Wasser bis zum Hals. Londons Brücken bröckeln, Corona legt das Königreich lahm, Schottland drängt zum Exit und dem Pfund ging es auch schon besser. Zudem liegt der neue Labour Chef, Keir Starmer, in den Umfragewerten weit voran.
Also haut Boris auf den Putz. Ohne Rücksicht auf Verluste an Vertrauen.
Boris ist dabei nicht alleine. Auch Konservative anderer Länder nehmen es mit Normen, Gesetzen, Vorschriften und Vereinbarungen nicht mehr allzu streng.
Doch Großbritannien ist ein anderes Kaliber. Es ist Atommacht, Ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats und – gemeinsam mit den USA – einer der Architekten jener völkerrechtlichen Ordnung, die nach 1945 errichtet wurde. Eine Struktur, die bei allen Fehlern, Makeln und Schwächen, für ein weitgehend gedeihliches Zusammenleben auf diesem Planeten sorgt. Weil man ihr vertraut.
Wenn Großbritannien sich nicht mehr an Verträge hält, aus welchen Gründen sollten sich dann andere noch an Verträge und Normen halten?
Konservativ ist das nicht. Jan Ross muss einen anderen Hoffnungsträger suchen. (fksk/20.9.20)