Woche 49 – Bevor der Vorhang fällt

Da steht er nun, Donald Trump, und nutzt einmal noch die große Bühne seines Amtes. Er insistiert, er klagt und zürnt und droht, er sucht alle Möglichkeiten zu nutzen, das Unvermeidliche zu vermeiden. Mit ganzer Macht will er seine Wahrheit entgegen aller Fakten als allein gültige Wahrheit durchsetzen. Indes, seine Macht beginnt zu bröckeln. Ringsum lichten sich die Reihen, ziehen sich Mitstreiter und Minister vorsichtig zurück, nur die wahrhaft Gläubigen jubeln ihm noch zu, frenetischer noch als zuvor, glauben ihm, lieben ihn, wollen nicht von ihm lassen.

© Jon Tyson / unsplash.com

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Ihnen gibt er, was sie wollen. Wut, Zorn und Sündenböcke. Vornehmlich nun aus den eigenen Reihen. Er ruft republikanische Gouverneure auf, Wahlergebnisse zu annullieren, nennt sie Verräter und schlimmeres. Er feuert Mitarbeiter, Minister und eben noch Vertraute. Er räumt auf.

Es sind endzeitliche Auftritte. Großes Theater.

Das ist Shakespeare ganz in der Gegenwart. Trump gibt den Lear, den Richard III, den Macbeth. Und er gibt sie überzeugend.

Stephen Greenblatt, Professor für Englische und Amerikanische Literatur an der Harvard University, beschreibt in seinem Werk „Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert“ (Siedler, 2018), kenntnisreich und im Detail, wie und unter welchen Umständen Tyrannen aufsteigen, wie sie herrschen, wie sie scheitern. Unseren großen Protagonisten nennt er dabei kein einziges Mal beim Namen, auch nicht die vielen anderen, die zahlreich die Weltbühne bevölkern.

Was er vielmehr herausarbeitet, sind die Typologien des Tyrannen und der Umstände, die ihn begünstigen. Wohlgemerkt, es geht bei Greenblatt ausschließlich um Shakespeares Werk, nicht um eine Momentaufnahme der Gegenwart.

Wenn das alles nur nicht so gegenwärtig wäre. Mitsamt der Liebdienerei, der Bereitschaft, sich zu unterwerfen, der Hoffnung, dass ein wenig Macht abfallen möge, mit dem Ausblenden aller moralischen und rechtlichen Vorgaben und Rahmen.

Der Tyrann, von sich überzeugt, vom Scheitel bis zur Sohle ganz auf sich und nur auf sich eingestellt, stößt unweigerlich auf Widerhall und Sympathie. Schlicht, weil er alle Konvention bricht. Weil er aufräumt, entscheidet, Fakten schafft.

Das ist mit eine der Gaben, die dem Tyrannen gegeben ist, wenigstens auf Zeit, er schafft Fakten, selbst wenn sie auf Lug und Trug aufbauen, ihre Basis eigentlich nicht tragen dürfte. Sie tut es aus dem Grund, dass dem Tyrannen geglaubt wird, ihm die Macht und das Vermögen zugeschrieben werden, wider aller Gesetzmäßigkeiten eine neue Welt aufzubauen. Der Tyrann, das bringt Shakespeare ein ums andere Mal auf die Bühne, kann nur werden, indem die Gesellschaft ihn werden lässt. Indem sie nur allzu bereit ist, schwarz als weiß und heiß als kalt wahrzunehmen und so auch zu benennen.

Davon hat der Immobilienmagnat aus New York sich höher und immer höher tragen lassen. Als Reality-TV-Star, als politische Randfigur, als Kandidat, als Präsident. Ein Wirbelsturm, ein Naturereignis, ein Schauspiel, das nicht nur das amerikanische Publikum in seinen Bann gezogen hat, sondern gleich das des gesamten Planeten. Die Welt als seine Bühne.

Nun zeichnet Shakespeare nicht nur den Aufstieg seiner Tyrannen nach, er schildert stets auch ihr finales Scheitern. Was, erfreulich für das Publikum, im Theater binnen eines Abends, innerhalb einiger Akte sich vollzieht. Im wahren Leben dauert es.

So bestreitet denn nun Donald Trump den letzten Akt, er ruft ganz ungeniert zum Bruch amerikanischer Gesetze. Er bäumt sich auf, zieht einmal noch alle Blicke auf sich, will den Lauf der Dinge noch einmal wenden, wie er ihn so oft schon wenden konnte. Das Publikum indes weiß schon, dass unweigerlich der Vorhang fällt. Spätestens im Jänner.

Auf der Bühne ist damit meist ein Akt der Selbsterkenntnis, der Reue und Einsicht zu sehen. Oder aber das gnadenlose Ende, der tiefe Sturz des Tyrannen. Das Publikum atmet dann auf, erleichtert, dass alles nur ein Theater war.

Trump aber, der so sehr eine Figur des englischen Dramatikers sein könnte, Trump ist ganz und gar Reality-TV. Er arbeitet jetzt schon an den nächsten Staffeln seiner Saga: „Trump – das Exil“, „Trump – die Revanche“, „Trump – die Abrechnung“. Ab Jänner, live aus Mar-a-Lago.

So das Publikum seiner nicht doch noch überdrüssig wird. (fksk/07.12.20)

Woche 48 – Höchste Zeit für Streit

Im Anfang war Mathias Horx. Und mit ihm war die Zuversicht, seine Worte waren schön und beruhigend und aufbauend. Corona, so befand der Zukunftsforscher im März schon auf den Herbst vorwärts rückblickend, habe unsere Gesellschaft entschleunigt, emphatischer und solidarischer werden lassen. Behände und optimistisch skizzierte er Möglichkeiten, die die Zumutungen der Selbstisolation vielen erträglicher werden ließen. So war denn auch die Stimmung der ersten Wochen freundlich, einander zugewandt und mit der Hoffnung versehen, dass alles bald wieder sein werde wie zuvor, nur besser, schöner und echter.

© Eli Maurer / unsplash.com

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Nichts da, es hat sich ausgehorxt.

Jetzt regieren Unmut, Überdruss und der zweite Lockdown. Ein dritter dräut am Horizont. Sebastian Kurz nennt das dann „Licht am Ende des Tunnels“.

Eine Coronaerkrankung, das wird immer öfter beschrieben, geht, auch wenn sie überstanden wird, oftmals mit Langzeitfolgen einher. Apathie, Müdigkeit, Kraftlosigkeit plagen die Genesenen, die sich also so gar nicht genesen fühlen, von gesund gar nicht erst zu sprechen.

Über die Tücke dieses Virus ist viel schon gesagt, geschrieben und gesendet worden. Mag sein, dass mit den neuen Impfstoffen die Wellen der Pandemie eingedämmt und gebrochen werden können, so dass wirklich Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist.

Aber das ist nur ein erster Schritt, die Akutbehandlung.

Was bleibt, das sind die Langzeitfolgen. Nicht nur die gesundheitlichen. Die gesellschaftlichen. Der krude Mix aus Verschwörungsmythen, Esoterik und Globulibürgertum, die unerwarteten Allianzen rechts- und linksextremer Gruppierungen mit Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die sich in Angst und Wut vereint wiederfinden. Vor allem in Wut, ungezügelt, ungehemmt.

Das Virus, auch das schon tausendfach festgehalten, wirkt wie ein Brennglas. Es legt schonungslos die Bruchstellen unserer Gesellschaft frei. Den einen ist es ein Turbo der Veränderung, den anderen ein Brandbeschleuniger.

Und Bruchstellen gibt es, zumal in den westlichen Gesellschaften, zuhauf. Was einmal galt, das gilt nicht mehr. Die Sicherheit, in der besten Welt auf diesem Planeten zu leben, ist perdu. Was nach Wiederaufbau und Wirtschaftswunder schlichtweg als gegeben schien, als garantierte Zukunftsperspektive, ist stückchenweise abhandengekommen. Arbeit zu haben, wenn man denn welche hat, bedeutet nicht mehr steigenden Wohlstand. Bildung nicht mehr sozialen Aufstieg. Die Konkurrenz nimmt auf allen Ebenen zu, wird hart und immer härter.

Die Entwicklungen überschlagen sich, heute dominiert die digitale Transformation das Geschehen, morgen die Potenziale der Gentechnologie und die ganz Zeit über Klimawandel, Artensterben und demografischer Wandel.

Die Welt ist, wenigstens aus westlicher Sicht, kein heimeliger Ort mehr. Sie ist es, das ist die Crux, spürbar nicht mehr. Abgehängt zu sein, das ist nicht nur ein Gefühl, für viele, für zu viele ist es schlichtweg Realität.

So weit so bekannt.

Eine schnelle Lösung ist indes keine in Sicht. Stattdessen Flickschusterei hier und da und dort. Damit mag in ruhigeren Tagen ein wenig Zeit gewonnen werden. In einer Krise, angesichts einer weltweiten Pandemie, deren Folgen nicht und nicht abzuschätzen sind, nicht mehr. Dann bricht mit Vehemenz auf, was bislang notdürftig zugedeckt worden ist.

Gut so, es ist hoch an der Zeit zu streiten. Konstruktiv und leidenschaftlich.

Gerade die Pandemie zeigt, was möglich ist. Nie zuvor ist in so kurzer Zeit, so schnell an Therapien und Impfungen geforscht und gearbeitet worden. Erfolgreich, über alle Grenzen hinweg, von kleinen Einheiten und großen Unternehmen. Dass jetzt, nach zehn Monaten, mindestens zwei vielversprechende Vakzine zur Verfügung stehen, dass sie im Lauf der kommenden Monate auf breiter Basis zum Einsatz kommen können, das kann als Anstoß wahrgenommen werden, endlich auch die großen Themen, die so sehr drücken, zu verhandeln. Um zu einem erneuerten, zu einem neuen Konsens und Gesellschaftsvertrag zu finden.

Einfach ist das nicht. Ebenso wenig wie schnell getan. Gesellschaftliche Debatten, so sie ernsthaft und in der Tiefe geführt werden, brauchen Zeit. Sie brauchen Engagement und sie brauchen Orte, an denen sie geführt werden können. Vor allem müssen sie ehrlich geführt werden, ohne Vorbedingung und ohne im Vorhinein schon zu wissen, was letztendlich dabei herauskommen soll und muss.

Darin aber besteht die Möglichkeit, als Gesellschaft wieder gestaltend tätig zu werden, Trends aktiv zu prägen, anstatt von ihnen geprägt zu werden. Um zu einem neuen Selbstverständnis und Konsens zu gelangen. (fksk/27.11.20)

Woche 47 – (K)eine vorweihnachtliche Geschichte

Die gute Nachricht dieser Tage kommt – aus den USA. In dem zerzausten und von vielen als unansehnlich bezeichneten Christbaum vor dem New Yorker Rockefeller Center ist eine kleine Eule gefunden worden. Drei Tage war der Sägekauz, der zuvor schon das Fällen des Baums überstanden hat, unterwegs in die große Stadt und wird gegenwärtig wieder aufgepäppelt. „Rockefeller“, wie der Vogel genannt wird, soll demnächst ausgewildert werden.

© Phil Hearing / unsplash.coom

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Eine Vorweihnachtsgeschichte mit Happy End, die in Zeiten wie diesen schlichtweg wohltut.

Dafür verzeihen die New Yorker dem Baum auch sein Aussehen.

Überhaupt, die Bäume dieses Jahres. Der Wiener wurde ebenso mit harschen Worten bedacht wie jener in Frankfurt und der in Übersee. Nur Frau Merkel in Berlin erhält ein Prachtexemplar. Berichtet wenigstens die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf ihrer Titelseite. Die muss es wissen.

Was die Welt indes noch nicht weiß, ist, wie Frau Trump das Weiße Haus dieses Jahr zu schmücken gedenkt. Die Kritiken der vergangenen Weihnachten waren alles andere als freundlich.

Gut möglich, dass Trumps heuer überhaupt auf festliches Gepränge verzichten. Langsam wird sich auch im Präsidentensitz herumgesprochen haben, dass die Wahl verloren ist. Allen Bemühungen des umtriebigen Rudy Guiliani zum Trotz. Und der Mann hat einiges drauf. Einerlei, ob er vor einem Garten- und gleich neben einem Erotikcenter eine Pressekonferenz abhält oder ob ihm der Schweiß tiefschwarz über die Wangen rinnt, er gibt alles. Für 20.000 US-Dollar Honorar pro Tag. Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr. Mitte Dezember kommt das Wahlmännergremium in Washington DC zusammen, um den neuen Präsidenten endgültig zu küren.

Worin Guiliani und Konsorten, allen voran der abgewählte Präsident, indes erfolgreich waren, ist, dass eine Dolchstoßlegende Raum greift. Es hätten Tote für die Demokraten gestimmt (was Wunder, wenn die Wahlen kurz nach Halloween stattfinden), es seien illegale Stimmen gezählt worden, die Wahl sei eigentlich gewonnen, aber durch venezolanische Kommunisten unter dem Kommando des bereits vor Jahren verblichenen Hugo Chavez manipuliert worden. (*)

Eigentlich könnten die USA stolz auf diese Wahlen sein. Auf die hohe Wahlbeteiligung ebenso wie darauf, dass sie allen Hindernissen und Befürchtungen zum Trotz sauber und ohne Zwischenfälle vonstatten gegangen ist. In einer anderen Welt hätte der unterlegene Amtsinhaber stolz darauf verwiesen, dass er so viele Stimmen gewonnen hat, wie nie zuvor ein Amtsinhaber vor ihm. Bedauernd aber anerkennend hätte er hinzugefügt, dass der Herausforderer noch mehr Zuspruch erfahren hat. Ebenfalls so viel wie kein anderer Kandidat in der Geschichte der USA. In einer anderen Welt trüge diese Wahl zu einer Kräftigung der Demokratie und der demokratischen Prozesse bei.

Die Realität gleichwohl gibt sich hässlich. Das Weiße Haus gleicht einer Trutzburg der Niedertracht.  Die Unterstellungen, der Mythos von der gestohlenen Wahl, der Zweifel an der Demokratie, das alles bleibt. Es wirkt wie Gift in einer Gesellschaft, die sich ihrer selbst unsicher ist.

Bislang haben die Institutionen der USA bewiesen, dass auf sie Verlass ist. Sie funktionieren, sie tragen die Republik, sie hegen selbst einen Autokraten ein. So der Ansturm nicht zu lange dauert. In seiner Weigerung, die Niederlage einzugestehen und den eingeübten Ritualen des geordneten Machtwechsels zu folgen, prolongiert der abgewählte Präsident den Angriff auf die demokratischen Fundamente der USA. Mit unabsehbaren Folgen.

Angesichts des Trolls von Washington ist die Meldung über das Abenteuer des kleinen Sägekauzes in New York kurzzeitig eine willkommene Ablenkung. Er wird freilich bald wieder vergessen sein. Trumps Twittertiraden nicht. (fksk/22.11.20)

(*): Update: Diese These, geäußert von der Anwältin Sidney Powell aus dem Rechtsanwaltsteam Trump, war denn auch den Juristen wie den Wahlkampfteam zu bizarr. Frau Powell wurde aus dem Team ausgeschlossen. (fksk/23.11.20)

Woche 46 – Joe und der gordische Knoten

Joe Biden hat die US-Präsidentschaftswahl gewonnen. Er hat sie klar gewonnen, in absoluten Zahlen wie auch an Wahlmännern. Nur war es nicht der von vielen erhoffte Erdrutschsieg, nicht die überwältigende Absage an den Trumpismus, auf den Kommentatoren und Beobachter hofften, von dem sie geradezu ausgingen. Die Wählerinnen und Wähler der USA haben stattdessen dafür gesorgt, dass keine Seite uneingeschränkte Oberhoheit hat und die Themen der Trump-Wählerschaft relevant bleiben.

© Kevin Grieve / unsplash.com

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Das kann man als fatal ansehen, als Fortschreibung der Pattsituation zwischen den wie auch immer liberalen Küsten und urbanen Zentren sowie den konservativen ländlichen Gebieten der Vereinigten Staaten. Mithin als fortschreitende Schwächung der USA, da die Biden-Präsidentschaft sich in erster Linie darauf wird konzentrieren müssen, Vertrauen herzustellen, der Gesprächsbereitschaft in Trippelschritten den Weg zu bahnen, mühselig Kompromiss auf Kompromiss mit den Republikanern zu zimmern.

Joe Biden ist nachgerade mit einem gordischen Knoten konfrontiert.

Die Lösung Alexander des Großen, den Knoten mit einem Schwerthieb zu durchtrennen, ist, wiewohl als kühne Tat und Ausweis seines Sendungsbewusstseins und Anbruch einer neuen Zeit gefeiert, eine reichlich simple. Bei einem realen Knoten mag sie angehen. Bei einem gordischen Knoten, wie er sich in den unterschiedlichen, krass divergierenden Lebenswelten und Erwartungshaltungen der US-Bevölkerung darstellt ist ein wie auch immer gearteter Schwerthieb keine Lösung.

Vielmehr braucht es Geduld und Fingerspitzengefühl. Joe Biden könnte sich in dieser Situation als die in jeder Hinsicht richtige Wahl herausstellen.

Der Mann ist seit einer gefühlten Ewigkeit in der US-Politik zu Hause. Er kennt, wie kaum ein anderer, die Kniffe und Befindlichkeiten. Er weiß seine Gegner (von denen er mehr als genug auch in der eigenen Partei hat) gut einzuschätzen. Wichtiger noch, er ist kein Haudrauf.

Das hat er allein in den Tagen seit er zum Sieger ausgerufen worden ist unter Beweis gestellt. Mit einer versöhnlichen Rede, mit Ruhe, mit ersten personellen Entscheidungen, indem er Tatsachen schafft, anstatt triumphal als zu feiern. Er verschafft den USA jetzt schon eine erste, dringend benötigte Atempause.

Die Querschüsse aus den Reihen der Republikanischen Partei, die Klagen, Unterstellungen, Vorwürfe des Wahlbetrugs, die offene Obstruktion durch die Trump-Administration lässt er ins Leere laufen – trotzdem nie zuvor ein US-Präsident mehr Stimmen auf sich vereint hat als er. Möglicherweise weil er sich des Umstands bewusst ist, dass auch nie ein amtierender Präsident mehr Stimmen erhalten hat als Trump.

Biden ist nicht der Typ, der große Emotionen hervorruft. Darin sind, bei allen gravierenden Unterschieden, Obama und Trump einander weitaus ähnlicher. Mit ihm werden keine großen Heilserwartungen verbunden. Weder von der Linken (die so viel lieber doch Bernie Sanders gesehen hätte), geschweige denn von der Rechten. Womit sich ihm die Chance bietet, die Mitte zu definieren, dem Zentrum jenes Gewicht zu verleihen, Diskurshoheit und Debattenfähigkeit zurück zu erlangen. Was wiederum voraussetzt, die andere Seite zu hören, auf ihre Argumente einzugehen, sich inhaltlich mit ihr zu beschäftigen.

Genau daran mangelt es in den USA (und nicht nur den USA). Die Fähigkeit und die Geduld sich mit Ansichten auseinanderzusetzen, die einem fremd sind, die eine Zumutung darstellen, die man eigentlich gar nicht denken geschweige den hören will. Das freilich ist das Wesen einer demokratischen Gesellschaft. Sie ist nie einfach, sie kann nicht auf Kommando funktionieren, sie verlangt nach dem Streitgespräch und nach Teilnehmern, die nicht sofort beleidigt sind, so sie mit anderen Sichtweisen konfrontiert werden. Demokratie ist eine langwierige Sache und eine ununterbrochene Zumutung.

Joe Biden, seit 48 Jahren inmitten des politischen Geschehens, weiß das. Er wird den gordischen Knoten vielleicht nicht lösen können. Aber er kann ihn wenigstens so weit lockern, um wieder Bewegung zwischen den Lagern zu ermöglichen.

Allein das würde seine Präsidentschaft zu einer herausragenden machen. (fksk/15.11.20)

Woche 41 – Das Privileg der Wahl

Wer wählen darf und warum, darauf gibt das Gesetz eine klare Antwort: Wählen darf in Österreich wer die österreichische Staatsbürgerschaft hat und zu einem Stichtag mindestens 16 Jahre alt ist.

So klar ist das und so einfach. Und nichts ist damit einfach, wenn in einer Stadt mit zwei Millionen Einwohnern dadurch rund ein Drittel der Bevölkerung nicht wählen kann – weil sie keine Staatsbürger sind. Wenn mithin ein Drittel der Bevölkerung, von denen wiederum das Gros einer Arbeit nachgeht, Steuern zahlt und wesentlich zum Leben der Stadt beiträgt, schlichtweg vom politischen Willensbildungsprozess ausgeschlossen wird.

© Parlamentsdirektion / Mike Ranz

© Parlamentsdirektion / Mike Ranz

Weswegen die Diskussion um das Wahlrecht für ausländische Mitbürger im Vorfeld der Wiener Gemeinderats- und Landtagswahlen wieder aufgeflackert ist. Versehen mit Emotion und starren Standpunkten.

Im Kern sei das Wahlrecht ein Staatsbürgerprivileg. In vielen Anläufen und gegen viel Widerstand im Laufe von Jahrzehnten über zwei Jahrhunderte errungen. Sagen die einen. Und führen weiter aus, dass, wer mitwirken wolle, sich eben um die Staatsbürgerschaft bemühen solle. Dann sei alles gut, verbunden mit allen Rechten und Pflichten.

Das sei der Weg zur Mitbestimmung.

Dabei sieht die Europäische Union wenigstens auf Gemeindeebene anderes vor. Hier haben EU-Bürger das aktive Wahlrecht. Prinzipiell.

Nur ist Wien eben auch Land, ist der Wiener Gemeinderat auch Landtag, womit dieses Recht der EU-Bürger sich auf die Wahl zu den Bezirksvertretungen reduziert. Mitsprache sieht anders aus.

Drittstaatsangehörigen, also Menschen etwa serbischer oder türkischer Staatsangehörigkeit, bleibt selbst diese Form verwehrt. Ein Zustand, der aus demokratiepolitischer Sicht unhaltbar sein, sagen die anderen.

Dabei haben sie etwa als Studenten das Recht, an den Wahlen zur Österreichischen Hochschülerschaft (ÖH) teilzunehmen. Sie haben auch das Recht, an den Wahlen der Wirtschaftskammer teilzunehmen – wenn in ihrem Herkunftsland Österreichern das gleiche Recht zugestanden wird. Es gibt sie also, die Möglichkeit der Mitbestimmung unabhängig von der Staatsbürgerschaft.

Nun ist der Wiener Gemeinderat und Landtag von anderem Gewicht als die ÖH oder die Wirtschaftskammer. Vom Österreichischen Nationalrat gar nicht erst zu reden. Aber, diese Beispiele zeigen, dass es durchaus möglich ist, das Wahlrecht auszuweiten, ohne dass Loyalitätskonflikte (die ausländischen Mitbürgern in Bausch und Bogen unterstellt werden) auch nur die geringste Rolle spielen. Weder in der Studentenvertretung noch im Wirtschaftsparlament haben sich türkische oder serbische oder andere Gruppierungen etabliert. Es dominieren die klassischen österreichischen Parteien.

Die Debatte wird bleiben. Selbst wenn es von links bis rechts herrschender Konsens ist, dass nun wirklich keine Notwendigkeit besteht, die Debatte zu führen. Tatsache ist, dass ein steigender Anteil der Bevölkerung von einem wesentlichen Instrument der Teilhabe ausgeschlossen bleibt. Und das in Zeiten der europäischen Integration. Mehr noch, in Zeiten, in denen die Demokratie in vielen Ländern unter Druck gerät. Weswegen es vielleicht umso wichtiger wäre, Menschen aus diesen Ländern hier mitstimmen zu lassen. Weil sie dieses Recht, den Gedanken der Demokratie dann auch wieder in ihre Herkunftsländer tragen. Wenn schon nicht alle, so doch wenigstens viele.

Zumal das Wahlrecht in sich die Möglichkeit einer differenzierten Teilnahme ermöglicht. Es gibt das aktive und das passive Wahlrecht. Also das Recht zu wählen, und das Recht gewählt zu werden.

Es ließe sich also das aktive Wahlrecht von den österreichischen Staatsbürgern ausdehnen auf EU-Bürger und – nach einer gewissen Aufenthaltsdauer – auch auf Drittstaatsangehörige.

Das passive Wahlrecht hingegen bliebe einzig und allein und ausschließlich österreichischen Staatsbürgern vorbehalten. Und den Bundespräsidenten, den wählen nur die Österreicher unter sich aus. So einfach könnt es sein. (fksk/11.10.20)

Woche 40 – Wetterleuchten der Konflikte

Trump ist krank. Die Corona-Infektionen steigen. Und alles wartet, bangt und hofft. Hofft, dass dieses Jahr sich doch noch zum Guten wendet, der Spuk wieder vorbei ist. Spätestens zur Jahreswende, also irgendwann zwischen November und Jänner; dass dann alles wieder wird. Wenigstens halbwegs und nicht mehr so nervenaufreibend.

Nichts wird wieder so. Nicht, dass eine Zeitenwende anstünde, von der im März und April viel und oft die Rede war. Nur der Fokus, das grelle Scheinwerferlicht, mit dem der Virus und die USA ausgeleuchtet werden, verhüllt mehr, als es zeigt. Im Schatten und im Dunkel jenseits des Lichtkegels geschehen entladen sich Spannungen, die nur dann und wann und kurz Aufmerksamkeit erregen.

© Johannes Plenio / unsplash.com

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Zum Beispiel Taiwan. Steve Tsang, Direktor des SOAS China Institute an der University of London, schätzt die Möglichkeit einer chinesischen Intervention auf der Insel ab November höher als je zuvor. Wenn der Ausgang der Präsidentschaftswahl am 3. November umstritten ist, die USA in einem Zustand verfassungsrechtlicher Auseinandersetzung gelangen und außenpolitisch gelähmt sind: „Peking würde darin eine Gelegenheit sehen, die nur alle tausend Jahre wiederkehrt“. Die Möglichkeit, sein Gebiet und seine Gebietsansprüche auf essentielle Seewege substantiell zu erweitern. Sowie die Chance, ein Beispiel chinesischer Demokratie zu tilgen.

Tatsächlich verschärft die Volksrepublik über die letzten Wochen nicht nur ihre Rhetorik gegenüber Taiwan, sie testet zusehend auch Grenzen aus. Ihre Marineverbände queren demonstrativ jene Linie in der Straße von Taiwan, die zwischen Peking und Taipeh als Demarkationslinie gilt. Nicht, um in der Tat und jetzt sofort anzugreifen, aber um Selbstbewusstsein zu demonstrieren. Und – um die amerikanische Reaktion zu prüfen. Die besteht bisher darin, einige wenige Schiffe in die Meerenge zu entsenden. Washington ist anderweitig beschäftigt.

Zum Beispiel Berg Karabach. Was aus europäischer Perspektive wie ein Konflikt weit hinten im Kaukasus und damit weit, weit weg erscheint, hat das Potential eine ganze Region in Brand zu setzen. Nach der Unabhängigkeit Armeniens und Aserbeidschans kam es bereits zum Krieg um die armenische Enklave in Aserbeidschan. Ein Konflikt, aus dem Armenien gestärkt hervorging und Berg Karabach als beinahe von Aserbeidschan losgelöste Region. Seither und damit fast 30 Jahre lang herrscht ein eiskalter Friede. Anders ausgedrückt, ein eingefrorener Konflikt.

Jetzt wird wieder gekämpft. Doch diesmal sind nicht nur Armenier und Aserbeidschaner beteiligt, vieles deutet darauf hin, dass die Türkei Baku mit Material und Mannschaften versorgt. Russland verhält sich abwartend, die USA engagieren sich gar nicht, selbst die Europäer verhalten sich, als ginge sie das alle gar nichts an. Man hat mit eigenen Problemen zu tun. Der Kaukasus ist fern.

Zum Beispiel die indisch-chinesische Grenzregion im Himalaya, wo indische und chinesische Grenztruppe im Sommer aneinandergerieten. Mit Steinen und Felsbrocken, geradezu archaisch. Wobei man sich die Folgen nicht ausmalen möchte, sollten die beiden Staaten tatsächlich in einen Krieg schlittern. Wobei es wichtig wäre, sich gerade diese Folgen auszumalen, um im Fall des Falles wenigstens diplomatisch noch agieren zu könne, um als Makler anerkannt und genutzt zu werden.

Zum Beispiel die Ägäis und das östliche Mittelmeer, in dem die Türkei ein ums andere Mal ihre Ansprüche rüde durchzusetzen sucht, was von Griechenland nicht minder rüde und von der Europäischen Union mit der demonstrativen Verlegung französischer Geschwader zum einen mit drängenden deutschen Gesprächsreigen zum anderen beantwortet wird. Die USA, als Nato-Verbündeter beiden Staaten verpflichtet, sind abwesend.

Donald Trump hat vor vier Jahren versprochen, die Truppen der USA nach Hause zu bringen, sich aus den Kriegen und Konflikten der Welt zurückzuziehen, denn für ihn gilt „America first“. Nun mag dieser Rückzug absolut legitim sein, das schallende Desinteresse, welches die Trump-Administration den immer öfter aufbrechenden Konfliktlinien entgegenbringt, ist es nicht. Wo Washington sich herausnimmt, hinterlässt es Leerstellen, freie Räume. Mithin Möglichkeiten, Fakten zu schaffen. Und Fakten lassen sich militärisch schneller schaffen als auf jede andere Art und Weise.

Die Europäische Union unterdessen ist nach wie vor nicht in der Lage, auch nur annähernd und auch nur in den unmittelbar angrenzenden Regionen diese Leerräume zu besetzen und zu stabilisieren. Sie ist dazu weder politisch und schon gar nicht militärisch in der Lage.

Mit der amerikanischen Absenz, der europäischen Irrelevanz und dem weltweiten Fokus auf Corona und den 3. November, ergeben sich nun eben Chancen, alste Rechnungen zu begleichen. Ganz ungestört und effektiv. Die Auswirkungen des Jahres 2020 werden die Welt noch lange beschäftigen.

Dabei gibt es auch hoffnungsvolle Entwicklungen.

Zum Beispiel Mali. Der Militärputsch im August interessierte Europa gerade so weit, als es um die Sicherheit europäischer Truppen und Ausbilder im Land ging. Die USA interessiert er gar nicht. Dass die Nachbarstaaten der Westafrikanischen Wirtschaftsunion (ECOWAS) indes massiven Druck auf die Junta ausübten, so schnell als möglich und nicht erst in drei Jahren zu einer Zivilregierung zurückzukehren, wurde nur sehr am Rande, eigentlich fast gar nicht registriert. Dass afrikanische Länder sich offen in die inneren Angelegenheiten eines anderen einmischen, das hat immer noch Seltenheitswert. Dass die westafrikanischen Staaten mit dieser Tradition brechen und sich dabei unter anderem auf grundlegende Werte ihrer Union berufen – das sollte gerade die Europäer interessieren. Als eine gute Nachricht, die neue Perspektiven der Zusammenarbeit eröffnet. In Mali sind nun Zivilisten an der Übergangsregierung beteiligt. (fksk/4.10.20)

Woche 39 – Loyalität und Verpflichtung

Der einen Albtraum ist der anderen Wunschtraum. Donald Trump kann zum dritten Mal einen Richterposten am Supreme Court mit einer Person seiner Wahl besetzen. Auf Lebenszeit.

Entsprechend hoch gehen die Wogen. Vor vier Jahren verwehrte der republikanisch dominierte Senat Barack Obama eine Besetzung und argumentierte, das Recht stünde denn doch einem neugewählten Präsidenten zu, nicht dem gerade noch amtierenden.

Supreme Court, Washington DC © Claire Anderson/unsplash

Supreme Court, Washington DC
© Claire Anderson/unsplash

Dass der republikanisch dominierte Senat heute ganz anders argumentiert, verwundert nicht weiter. „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, klüger zu werden“, deponierte einst Deutschlands Bundeskanzler Konrad Adenauer. Politiker in aller Welt haben sich diese Weisheit zu eigen gemacht. Ob aus Gründen neu gewonnener Klugheit oder aus Gründen politischer Opportunität und Billigkeit, das bleibe dahingestellt.

Trump hat dieser Tage die konservative Richterin Amy Coney Barrett vorgeschlagen und es sollte mit dem Teufel zugehen, würde sie nicht noch vor der Wahl am 3. November vom Senat bestätigt werden.

Man darf sich Trump gerade jetzt als glücklichen Menschen vorstellen.

Wenn er sich nur nicht verrechnet.

Auf dem Papier stehen dann sechs konservative Richter drei liberalen gegenüber. Doch es sind Richter an einer traditionsreichen Institution, einer der tragenden Säulen der Vereinigten Staaten. Diese Hüter der Verfassung haben durchaus ihren eigenen Kopf. Das hat Trump schon zu spüren bekommen.

Im November 2018 richtete ihm der – konservative und von George W. Bush bestellte – Chief Justice und also Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, John Roberts, über die Medien aus: „Wir haben keine Obama-Richter oder Trump-Richter“.

Sie sind Richter. Keine Politiker. Noch vor Ginsburgs Tod entschied der bereits konservativ dominierte Supreme Court (mit zwei von Trump berufenen Richtern) für LGTBQ-Rechte und zugunsten des geltenden Abtreibungsrechts. „Konservativ“ und „liberal“, so merkt Emma Long von der University of East Anglia in einem Beitrag auf The Conversation an, werden in Öffentlichkeit schlicht mit „Republikaner“ oder eben „Demokrat“ gleichgesetzt: „Aber das ist viel zu einfach und übergeht die ständigen Dementis der Richter, dass sie Entscheidungen auf der Grundlage der Parteipolitik treffen. Liberal und konservativ sollten vielmehr als die Herangehensweise der Richter an das Lesen, Verstehen und Anwenden des Gesetzes betrachtet werden. Obwohl sich dies natürlich mit ihrer persönlichen Politik überschneiden kann, ist es nicht ganz dasselbe wie das Treffen politischer Entscheidungen.“

Das ist das Wesen großer Institutionen. Sie formen auch die Menschen, die sie repräsentieren (Ausnahmen bestätigen die Regel). Genießt eine solche Institution zudem den Ruf absoluter Integrität und Unabhängigkeit, lösen sich auch ihre Vertreter von (partei)politischen Naheverhältnissen.

Es war Ruth Bader Ginsburg, die es ablehnte, zu Zeiten eines demokratischen Präsidenten in den Ruhestand zu treten um damit eine „liberale“ Wahl für ihre Nachfolge zu sichern. Sie war für dieses politische Spiel nicht zu haben.

So gesehen war sie „illoyal“ gegenüber den Liberalen, den Demokraten. Aber sie war loyal gegenüber der Institution, dem Obersten Gerichtshof und der Verfassung der Vereinigten Staaten. Sie war, im Sinne des Wortes, politisch unparteiisch. Man kann sagen, sie war frei. So, wie es auch John Roberts ist.

Unmittelbar bevor Trump offiziell Frau Barrett als seine Kandidatin bekanntgab, traf er sich im Oval Office mit Vertretern der Evangelikalen, seiner loyalsten Wählergruppe. Er hat geliefert, was sie sich von ihm erwartet haben. Über 200 neue und durchwegs konservative Richter in allen Bundestaaten der USA. Und jetzt, als Trophäe gleichsam, liefert er ihnen den Obersten Gerichtshof. Dafür liefern die Strengreligiösen ihm Stimmen.

So läuft das bei Trump. So läuft das in der Politik.

Fragt sich nur, ob auch der Gerichtshof in seiner konservativen Mehrheit sich Trump und den Evangelikalen verpflichtet sieht. Zweifel sind angebracht. (fksk/27.9.20)

Woche 38 – Boris haut auf den Putz

Ach, Boris. Letzte Woche entdeckt ZEIT-Redakteur Jan Ross den britischen Premier als Retter des bürgerlichen Konservativismus (Die Zeit N° 38/10.9.20) und beschreibt all die konstruktiven, optimistischen und bürgerlich-liberalen Charaktereigenschaften des obersten Torys. Und mit ihnen beschreibt er den europaweiten Niedergang des bisher existenten bürgerlich-konservativen Lagers.

Also jenes breiten Weltanschauungsdachs, „unter dem Unternehmer (dank des Gegensatzes zum atheistischen Marxismus), Gewerkschafter (wegen der christlichen Soziallehre) und Bildungsbürger (als Adressaten des Gymnasialhumanismus) gleichermaßen Platz fanden“.

© annie spratt / unsplash.com

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Boris Johnson, so Ross, sei zu der Schlüsselfigur einen „Volkskonservativen“ geworden. Mithin zu einem Hoffnungsträger. Ein rares Lob, von Ross mit Vorbehalten unterbreitet.

Die Vorsicht war begründet. Denn der von Ross Gelobte will nun den, von ihm verhandelten und unterzeichneten, Austrittsvertrag mit der Europäischen Union nicht mehr einhalten. Weil, so Premier Johnson, dieser Vertrag eine Grenze innerhalb des Vereinigten Königreichs zur Folge habe. Weil, so Boris Johnson weiter, die EU somit die Möglichkeit habe, das Königreich zu zerlegen. Stück für Stück.

Es ging und es geht immer nur um die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Und es geht um das Karfreitagsabkommen, durch das der jahrzehntedauernde Bürgerkrieg im Norden der Insel beendet werden konnte – wobei gerade die offene Grenze eine wesentliche Rolle spielte. Eine offene Grenze, die dank der Europäischen Union offen sein konnte. Auch weil niemand sich vorstellen konnte oder wollte, dass das Vereinigte Königreich aus der Union austreten würde.

Seit der Abstimmung 2016 geht es in allen Verhandlungen immer und immer wieder um die Frage, wie die Grenze zwischen dem Norden und dem Rest der Insel – so wie im Karfreitagsabkommen festgehalten – eine offene Grenze bleibt. Was nun verhandelt wurde läuft in gewisser Weise auf die alte Lösung mit dem Kleinwalsertal hinaus. Die österreichische Exklave zählte in Wirtschaftsfragen zu Deutschland, politisch zu Österreich.

Für Boris Johnson ein Affront. Der Startschuss, Großbritannien in seine Einzelteile zu zerlegen.

Also poltert er, legt dem Parlament ein Gesetz vor, welches im Widerspruch zum Austrittsvertrag steht. Erklärt letztlich aller Welt, dass Verträge, die das Königreich abschließt, vom Königreich nicht als bindend betrachtet werden.

Das kennt man. Von Potentaten, autoritären Figuren, ja, auch Diktatoren. Rechtssicherheit ist ein hohes Gut. Darauf will Verlass sein. Darauf muss Verlass sein. Vertragstreue ist das essentielle Element des Völkerrechts. Dieses baut nicht auf Strafen oder Sanktionen auf, sondern auf Vertrauen. Auf Dialog, Debatte, Auseinandersetzung.

Allesamt langwierige Verfahren.

Boris Johnson aber braucht schnell einen Erfolg. Er braucht einen Gassenhauer, einen Top-of-the-Pop-Nummer-1-Hit in der politischen Arena, denn ihm steht das Wasser bis zum Hals. Londons Brücken bröckeln, Corona legt das Königreich lahm, Schottland drängt zum Exit und dem Pfund ging es auch schon besser. Zudem liegt der neue Labour Chef, Keir Starmer, in den Umfragewerten weit voran.

Also haut Boris auf den Putz. Ohne Rücksicht auf Verluste an Vertrauen.

Boris ist dabei nicht alleine. Auch Konservative anderer Länder nehmen es mit Normen, Gesetzen, Vorschriften und Vereinbarungen nicht mehr allzu streng.

Doch Großbritannien ist ein anderes Kaliber. Es ist Atommacht, Ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats und – gemeinsam mit den USA – einer der Architekten jener völkerrechtlichen Ordnung, die nach 1945 errichtet wurde. Eine Struktur, die bei allen Fehlern, Makeln und Schwächen, für ein weitgehend gedeihliches Zusammenleben auf diesem Planeten sorgt. Weil man ihr vertraut.

Wenn Großbritannien sich nicht mehr an Verträge hält, aus welchen Gründen sollten sich dann andere noch an Verträge und Normen halten?

Konservativ ist das nicht. Jan Ross muss einen anderen Hoffnungsträger suchen. (fksk/20.9.20)