Woche vierzehn. Russlands Streitkräfte konzentrieren ihre Truppen im Donbass, verstärken ihre Angriffe und suchen die ukrainischen Verteidiger in einer Zangenbewegung zu umfassen. Vor dem Hintergrund der massiven Kämpfe verlautet aus Kiew, die Ukraine verzeichne pro Tag Verluste von bis zu 100 Mann. Noch ein paar Zahlen: In den ersten 100 Tagen des Kriegs sind 15.000 Ukrainer ums Leben gekommen, die Zahl der Verletzten ist um ein Vielfaches höher, etwa 4,5 Millionen Menschen sind aus der Ukraine in andere Länder geflüchtet, rund 1,5 Millionen Schutzsuchende sind im Land geblieben. Die Schäden an der ukrainischen Infrastruktur werden bereits mit 100 Milliarden Euro beziffert. Der britische Geheimdienst schätzt, Russland habe unterdessen 20 Prozent seiner militärischen Kapazität verloren.
Während in der Ukraine also der Krieg tobt und in Europa viele Menschen ebenso wie ihre Regierungen nach wie vor damit ringen, diese neue Realität mit ihrem Leben, Planen und Agieren in Einklang zu bringen und eine mehr als 70 Jahre andauernde Sicherheit zu verlassen, feiert Großbritannien den 70. Jahrestag der Krönung seiner Königin mit Paraden, Pomp und Picknicks. Pünktlich zum Tag 100.
Folgt man den Berichten aus London, mischt sich indes in die Feiern zum „Platinum Jubilee“ ein Hauch von Abschied. Nicht nur, weil Elisabeth II. sowohl den Dankgottesdienst wie auch das Derby in Epsom ausfallen ließ, vielmehr weil allen Beteiligten an Tagen wie diesen schmerzlich bewusst wird, dass die Regentschaft der Königin sich ihrem Ende zuneigt. Eine Epoche klingt aus.
Eine, in der Geschichte Europas, fast einzigartige Periode weitgehenden Friedens, bisher unerreichter allgemeiner Sicherheit, eine Zeit der Chancen auf sozialen Aufstieg, auf wirtschaftlichen Erfolg, auf ein Leben, das sich besser ausnimmt als jenes der Vorgängergeneration. Ein goldenes Zeitalter im Rückblick.
Einerlei, was in diesen sieben Jahrzehnten geschehen ist, wer die Bühne betreten, beherrscht und auch wieder verlassen hat, von Winston Churchill über John F. Kennedy, Willy Brandt, Margaret Thatcher bis hin zu Tony Blair, Barack Obama, Nelson Mandela, Michail Gorbatschow und Vladimir Putin, von Elvis Presley, den Beatles, Rolling Stones, Abba, den Sex Pistols, The Clash, Elton John, den Spice Girls und Adele – Elisabeth II. war stets anwesend. Die 60er und 70er Jahre, der Optimismus des Aufbruchs, der Durchbruch der Popkultur, der Punk der 80er Jahre und Cool Britannia in den späten 90ern und frühen 2000ern, sie, die Königin, war in gewisser Weise ein integraler Teil davon. Sie war, sie ist Pop. Ikonisch verewigt von Andy Warhol.
Als sie 1952 ihrem Vater nachfolgt, ist Europa noch vom Zweiten Weltkrieg gezeichnet und bereits im Bann des Kalten Krieges gefangen. Auch ein Epochenwechsel, der damals stattfindet. Nicht nur, dass das Vereinigte Königreich sich aus Indien und Pakistan zurückgezogen hat, es geben sukzessive alle europäischen Kolonialmächte ihre Kolonien auf. Parallel zu diesem Bedeutungsverlust europäischer Macht und Weltgeltung erfindet sich wenigstens das westliche Europa neu, indem es auf Integration setzt, auf das Zusammenwachsen seiner Wirtschaft, auf zusehends offene Grenzen, auf gemeinschaftliche Institutionen, auf das Gemeinsame anstelle des Trennenden. Tatsächlich erwächst, dank des freien Verkehrs von Waren, Ideen und Projekten, durch den Austausch von Schülern, Studenten, durch das Erleben eines Kontinents mittels Interrail so etwas wie ein neues europäisches Bewusstsein.
Es sind, allen Krisen, Kämpfen und Konflikten zum Trotz, glückliche Jahre für einen Kontinent, der zuvor binnen kürzester Zeit zum Schauplatz zweier Weltkriege wurde, mehr noch, zum Ort der größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es sind die Jahre Elisabeths, in denen dieses Europa seine Dämonen weitgehend bannt, sich neu findet als Soft Power, und darin hofft, zum Vorbild für die Welt zu werden. Ein leuchtendes Beispiel dafür, was Kooperation, Dialog und die Fähigkeit zum Kompromiss vermögen. Weswegen die Union immer größer wird, sich nach und nach in Richtung Osten ausbreitet.
Eine neue Weltmacht, friedlich, freundlich und sympathisch.
Die Queen ist dabei. Friedlich, freundlich und sympathisch.
Sie ist auch da, wenn es Rückschläge gibt, stoisch, pflichtbewusst und zuverlässig. Das beruhigt. Weit über ihr Vereinigtes Königreich hinaus.
Man gewöhnt sich so sehr an sie, wie man sich an dieses selbstverständliche Leben in Frieden, Freiheit und Sicherheit in Europa gewöhnt hat. Beides wird nicht in Frage gestellt. Beides ist schlichtweg gegeben.
Auch wenn es da oder dort wetterleuchtet. Aber wann hätte es nicht wettergeleuchtet in diesen langen Jahren? Und ist es denn tatsächlich notwendig, sich darüber Gedanken zu machen, was einmal sein wird, wenn alles sich ändert? In Großbritannien herrscht dazu nur in einer Sache Klarheit, darüber, wie das Räderwerk an jenem Tag ineinandergreifen und einen reibungslosen Ablauf sicherstellen wird, an dem Elisabeth II. stirbt. Was dann kommen mag, was das für die Monarchie, für den Zusammenhalt des zusehend uneinigen Königreichs bedeutet, darüber mag, darüber will man sich keine Gedanken machen. Es wird sich weisen. Zudem ist die Monarchin gesund und zäh und pflichtbewusst. Lang lebe die Königin!
Es soll einmal Kaiser Franz Joseph auf die Frage, wie es ihm gehe, geantwortet haben, er sei längst schon verstorben, nur traue sich niemand, ihm diese Tatsache mitzuteilen. Der österreichische Kaiser regierte 68 Jahre lang, Kriege lagen weder ihm noch seiner Armee, weswegen er sie scheute und von den Menschen in seinem Reich als Friedenskaiser wahrgenommen wurde. Sein Tod war der Schlusspunkt einer Epoche, die sich lange schon ihrem Ende zugeneigt hatte, die zwei Jahre nach seinem Begräbnis mit dem Zusammenbruch der Monarchie ein für allemal Geschichte wurde. Auch damals hatte man das Ende kommen sehen. Man hätte diesem Ende mit Millionen Toten entgegenwirken können. Aber schon damals galt, dass der bequeme Status quo besser nicht in Frage gestellt wird.
Ganz so verhält es sich heute nicht.
Dass Europa, dass das vereinte Europa, vor grundlegenden Entscheidungen steht, das ist spätestens seit dem Ausscheiden Großbritanniens offenbar. Dass diese Europäische Union sich nicht nur als merkantile Großmacht sehen darf, sondern als potenzielle politische Macht von Weltgeltung begreifen sollte, das liegt spätestens seit dem Versuch der Bush-Administration 2002 und 2003, die Union in feige Wiesel und willige Koalitionäre zu spalten, offen zutage. Und noch mehr seit 2014, als Putins Russland der souveränen Ukraine ebenso so ungeniert wie unausgesprochen den Krieg erklärt, die Krim annektiert und im Osten der Ukraine einen zähen, dreckigen Kleinkrieg beginnt.
Dass diese wunderbar lange Phase der „Nachkriegszeit“ sich ihrem Ende nähert, dass es andere, neue Konzepte und Antworten braucht, das ist in Europas Hauptstädten bekannt, wenngleich als Erkenntnis nicht eben wohlgelitten. Schließlich gehen damit Veränderungen, Unsicherheiten und der Abschied von liebgewonnen Gewissheiten einher.
Der 24. Februar, der Tag, an dem Russland seinen schmutzigen Krieg gegen die Ukraine ausweitet und das Land mit all seiner militärischen Macht überfällt, aber markiert das Ende aller Illusionen. Mag sich die eine oder andere Regierung, die eine oder andere Gesellschaft auch noch weigern, das Offensichtliche zu akzeptieren, ein Zurück zu dem, was war, gibt es nicht. Eine Epoche ist unwiderruflich zu Ende gegangen. Man kann sie das zweite Elisabethanische Zeitalter nennen. (fksk, 05.06.22)