Collin Powell

Woche 12 – Der Lüge langer Schatten

Am Anfang steht eine Lüge. Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen und arbeite an nuklearen, chemischen sowie biologischen Waffen, das behauptet die US-Regierung George W. Bushs 2003. Inspektionen der Atomenergiebehörde IAEA führen indes zu keinen Ergebnissen. Das Weiße Haus beharrt auf seiner Darstellung. Am 5. Februar 2003 präsentiert US-Außenminister Colin Powell dem UN-Weltsicherheitsrat Beweise der US-Geheimdienste. Belege, von denen alle Welt weiß, dass sie fabriziert sind. Es sind Deutschlands Außenminister Joschka Fischer und sein französischer Amtskollege Dominique de Villepin, die die amerikanische Beweisführung in Frage stellen und ihrer Konsequenz, dem Krieg gegen Irak, vehement widersprechen. Vergebens. Einen Monat später startet der US-Angriff auf Irak. Die Folgen sind bekannt. Und desaströs.

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Dass eine Großmacht sich über alle Regeln und das Völkerrecht hinwegsetzt und dafür keine Konsequenzen zu gewärtigen hat, das kann man als Realpolitik sehen und als den großen Schwachpunkt sowohl der Vereinten Nationen wie der internationalen Ordnung. Man kann aber auch zusätzliche Lehren daraus ziehen.

Etwa, dass der offene Bruch völkerrechtlicher Normen und Verträge folgenlos bleibt, so man nur selber groß und stark genug ist. Und eine entsprechende Geschichte auf Lager hat. Russlands Präsident Putin ist 2003 noch nicht lange im Amt, aber die Machtdemonstration der USA wird er aufmerksam verfolgt und daraus weitreichende Schlüsse gezogen haben. Nicht nur er.

Die Lüge des Jahres 2003 und der aus ihr hervorgehende Krieg dienen seither als Paradebeispiel westlicher Arroganz. Zusammen laden sie zur weiteren Aushöhlung und Demontage des internationalen Systems ein. Und, sie werden angeführt, um laufende Verstöße zu rechtfertigen. Schließlich muss, was Washington erlaubt war, auch Moskau, Peking und anderen erlaubt sein. Georgien 2008, Hongkong 2019/2020 und die Ukraine seit 2014 sind die unmittelbar Leidtragenden dieser Argumentation.

Das ist eine der vielen Eigenschaften der Lüge, selbst wenn sie erkannt worden ist: Sie relativiert. Oder, genauer, sie lädt dazu ein, zu relativieren, zu verzerren, sie als Kern einer neuen Wahrheit zu betrachten und einzusetzen. Sie ermächtigt.

Die Lüge des Jahres 2003 trägt seither dazu bei, immer neues Unrecht zu erklären und unter Hinweis auf sie zu rechtfertigen. Sie hat in gewisser Weise neue Maßstäbe gesetzt (als ob es ausgerechnet diese Maßstäbe gebraucht hätte). Denn sie war ja tatsächlich als Lüge a priori erkennbar, als eine zu einem einzigen Zweck konstruierte Sichtweise, die in eklatanten Widerspruch zu allen verfügbaren und überprüfbaren, mithin validen Fakten stand. In Vorwegnahme Donald Trumps arbeitete die Regierung Bush ungeniert mit „alternativen Fakten“.

Es ist an dieser Stelle ein „was wäre, wenn?“ angebracht. Was wäre, hätten die US-Wähler diese Lüge ihres Präsidenten bei den folgenden Wahlen sanktioniert – und Bush abgewählt? Was wäre, wäre George W. Bush seiner Lügen wegen gemeinsam mit Rumsfeld und Cheney und des damit verbundenen Kriegs, angeklagt worden? Vor einem US-Gericht.

Vielleicht hätte der Siegeszug der „alternativen Wahrheiten“, den gerade die westliche Gesellschaft in den letzten Jahren erlebt hat und nach wie vor erlebt, gebremst werden können. Vielleicht hätten QAnon, „Querdenker“, „besorgte Bürger“, Verschwörungsmystiker und Konsorten niemals jene gesellschaftspolitische Wucht entwickelt, die sie nach wie vor demonstrieren. Und wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich, würde der Westen in seiner Gesamtheit von anderen Ländern nicht so sehr als verlogen und scheinheilig wahrgenommen. Dazu ist es mittlerweile zu spät. Selbst wenn heute noch ein Gerichtsverfahren eröffnet würde, die Auswirkungen dieser Lüge und die ihrer sich rasant mehrenden  Nachkommenschaft ließen sich damit nicht mehr eindämmen oder gar einfangen.

Die Lüge von 2003 war nicht die erste ihrer Art. Aber sie markiert einen wesentlichen Punkt. Jenen, an dem wider besseren Wissens und allen Fakten das Gegenteil behauptet wird – mit aller Macht. Diesen Punkt gilt es zu revidieren. Indem Fakten wieder anerkannt, Wahrheit und Lüge unterschieden und benannt werden. Es wird ein langer Weg. (26.03.23, fksk)

 

Post Scriptum: Colin Powell gestand später ein, von der eigenen Regierung getäuscht worden zu sein. Seinen Auftritt vor dem UN-Sicherheitsrat bedauerte er ebenso, wie er den Angriff auf Irak 2003 als Fehler brandmarkte. Und als George W. Bush zu dem Krieg meinte, er schlafe wie ein Baby, entgegnete Powell, er schlafe ebenfalls wie ein Baby. Alle zwei Stunden wache er schreiend auf.