Da saßen sie, drei Präsidentinnen dreier US-amerikanischer Universitäten, Penn, Harvard und MIT, und sorgten für Empörung. Auf die Frage, ob der Aufruf zum Genozid an Juden in Widerspruch zum Regelwerk ihrer Institutionen stehe, antworteten sie nicht mit ja oder nein, sie verwiesen auf Kontext, der zu beachten sei.
Als ob es einen Kontext gäbe, der den Aufruf zum Genozid an wem auch immer rechtfertigen könnte.
Es sei eine juristische Abwägung der drei Präsidentinnen gewesen, die sie nicht mit ja oder nein habe antworten lassen können, merken manche Juristen nun an und verweisen auf die in der US-Verfassung verankerte Freiheit der Rede und Meinung, die ungleich weiter und radikaler ausgelegt wird als in europäischen Landen. Mithin hätten die drei gar nicht anders können, als auf eine genaue Abwägung aller Umstände hinzuweisen, bevor sie und ihre Institutionen sich der Verletzung der Verfassung schuldig machten.
Tags darauf schieben alle drei Erklärungen nach, in denen sie jeden Aufruf zu Gewalt gegen Juden als inakzeptabel und mit den Werten ihrer Universitäten als unvereinbar bezeichnen. Ein Trauerspiel.
Eines, das in den Diskussionen und treibenden Ideen rund um Postkolonialismus und Dekonstruktivismus der letzten Jahrzehnte wurzelt.
Was als essenzieller Beitrag zur erweiterten Sicht und zum Begreifen der Welt bereits in den 50er Jahren formuliert wurde und mit Edward Saids „Orientialism“ 1978 endgültig Eingang in die Debatte und das Denken fand, der Postkolonialismus, ist mittlerweile zu einem starren Dogma geronnen. Freilich zu einem Dogma, das sich großer Sympathie erfreut, als es Eindeutigkeiten vorgaukelt, die nicht sind; das eine Bequemlichkeit des Denkens ermöglicht, frei von historischen Hintergründen und damit frei von Vieldeutigkeit.
Schuld trägt an allem der Westen.
Schuld tragen die Weißen.
Opfer ist der Globale Süden.
Opfer sind People of Colour.
Immer und überall. Ausnahmslos.
So löst sich Geschichte auf und wird ersetzt durch simplizistische Schwarz-Weiß-Wahrnehmung.
Dass es 1948 einen Teilungsplan für einen jüdischen und einen arabischen Staat gab, den die Araber ablehnten, stattdessen einen Auslöschungskrieg starteten – das spielt keine Rolle, das wird nicht gewusst.
Dass die arabischen Staaten nach 1948 ihre jüdischen Bürger unter dem Hinweis, es gäbe ja nun Israel, vertrieben und sich ihres Hab und Guts bemächtigten, dass uralte jüdische Gemeinden in Bagdad, Damaskus, in Kairo und Tunis gleichsam über Nacht aufhörten zu existieren – das wird ignoriert.
Dass die arabischen Staaten die palästinensischen Flüchtlinge nicht integrierten, ihnen niemals irgendeine Perspektive, als jene der Rückkehr in das angestammte Land in irgendeiner fernen Zukunft, zugestanden – das spielt keine Rolle.
Dass bessere Lebensumstände der Palästinenser wesentlich an der tiefsitzenden Korruption der palästinensischen Autonomiebehörde scheitern – das wird nicht einmal ignoriert.
Und dass die Terrorbande Hamas als regierende Gewalt in Gaza ausnahmslos gegen alle Pflichten zum Schutz der eigenen Bevölkerung verstößt, sie ignoriert und bewusst verletzt – das wird als Schuld Israel zugewiesen.
Das aber alles ist Kontext. Ist jener Kontext, ist jener Hintergrund, der zu wissen notwendig ist, um die Dimensionen des israelisch-arabischen Konflikts auch nur in Umrissen zu erahnen. So, wie es unerlässlich ist, die Rolle der Siedlerbewegung, ihre andauernden Übergriffe gegen die arabische Bevölkerung im Westjordanland einzuordnen, die Rechtsradikalen Israels, die Jichzak Rabin ermordeten, die heute in der Regierung vertreten sind und Israels Demokratie zu demontieren suchen. Auch das sind Facetten, die zu wissen not tut. Und an Facetten mangelt es hier nicht. An ihnen mangelt es nie, an keinem Ort der Welt, zu keiner Zeit und in keiner Situation.
In einer Welt, reich an Komplexität, suggerieren Dogmen Sicherheit. Es sind nicht allein die Unterstützer der Palästinenser und der Hamas, die nach ahistorischer Sicherheit gieren und sie sich auf die Fahnen heften. Die Sicherheit auf Basis eines dichotomischen Geschichtsverständnisses ist weit verbreitet. Auch und gerade in Angelegenheiten gerechter Anliegen.
Es steht außer Frage, dass Europa gut daran tut, sich mit seiner kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen und sich dabei auf andere Sichtweisen einzulassen. Auf jene des Kongo etwa, wo im späten 19. Jahrhundert ein Verbrechen stattfand, das in seiner Grausamkeit, Menschenverachtung und gnadenlosen Exekution der Shoa den Weg bereitet hat und insofern zu Recht mit der Shoa, dem Holodomor, den Killing Fields von Kambodscha und der chinesischen Kulturrevolution in einem Atemzug genannt werden kann. Genannt werden muss.
Aus Geschichtskenntnis erwächst Verantwortung.
Die Propagandisten des dogmatischen Postkolonialismus indes interessiert Geschichte nicht. Für sie existiert allein der Kontext europäischer Schuld, aus dem es für den Westen und alle, die mit ihm gleichgesetzt werden, kein Entrinnen gibt. Es sei denn um den Preis der Selbstaufgabe.
Das ist die Klaviatur, die von den Terroristen der Hamas über alle ihre Propagandakanäle hinweg virtuos bedient wird, in harmonischem Zusammenspiel mit Russlands Putin, mit dem klerikalfaschistischem Regime des Iran und ihren Sympathisanten aus Politik, Kultur und Wissenschaft des Westens. Gemeinsam bündeln sie ihre Kräfte gegen den Westen und alles, was ihn definiert. Seine universellen Werte, seine Idee einer demokratischen Gesellschaft, einer allgemein gültigen Rechtsordnung, seiner Fähigkeit, Widerspruch und Gegensätze als Notwendigkeit einer liberalen, offenen Gesellschaft zu begreifen und daraus neue Perspektiven zu gewinnen.
Das alles steht in absolutem Widerspruch zu den autoritären und totalitären Modellen, die sich als die Vertreter des geknechteten Globalen Südens ausgeben. Die in ihren haltungsbesoffenen, dogmatischen europäischen und amerikanischen Sympathisanten geschichtsaverse und daher umso so nützlichere Idioten und Verbündete finden. Insofern ist den drei Präsidentinnen für ihren Auftritt zu danken. Er war demaskierend. (fksk, 10.12.23)