Covid

Die Konjunktur des Konjunktivs

In der Krise hat der Konjunktiv Konjunktur. Was man nicht alles hätte kommen sehen müssen, was nicht unternehmen, vorbereiten, planen, in die Wege leiten. Das ist ein Wesensmerkmal jeder krisenhaften Situation, denn nachher – und nachher meint hier schon den Moment unmittelbar nach Eintritt des Ereignisses – ist man klüger. Das gilt für die Coronakrise, das galt für die Finanzkrise 2008 und die nachfolgende Eurokrise, das hatte nach 9/11 Gültigkeit und nach den Naturkatastrophen der vergangenen Jahre.

Was man nicht alles hätte sehen können.© engin akyurt / unsplash.com

Was man nicht alles hätte sehen können.

© engin akyurt / unsplash.com

Tatsächlich ist eine Pandemie von Coronaausmaßen bereits durchgespielt worden. Mehrfach und immer wieder. Zuletzt wurde bekannt, dass in Deutschland zu Zeiten der CDU/CSU/FDP-Regierung und nach Sars, ein entsprechendes Planspiel durchdacht wurde. Ein Szenario, welches sich aus heutiger Warte geradezu prophetisch ausnimmt.

Beschrieben wurde ein Sars-Virus, expressis verbis ein Coronavirus, welches seinen Ursprung in Asien hat, das sich ausbreitet und nach kurzer Zeit auch in Europa, diesfalls in Deutschland, massive Auswirkungen hat. Festgestellt wurde, was es alles an Kapazitäten bräuchte, um so einem Virus Herr zu werden.

Man hätte es wissen können. Man hätte vorbereitet sein können.

Man war es nicht.

Umso lauter klingt das Klagen. Umso schmerzlicher wird die Verwundbarkeit empfunden, die wir dieser Tage und Wochen erfahren. Denn das neue Virus begnügt sich nicht damit, Menschen zu infizieren. Es infiziert gleich die gesamte Weltwirtschaft mit. Es erschüttert die Welt, wie wir sie kennen, in ihren Grundfesten.

Nichts ist mehr wie es eben noch war. Unsicherheit macht sich breit, Pläne werden über den Haufen geworfen, die Zukunft, wie immer man sie sich ausgemalt hat, sieht nochmals anderes aus und wie sie aussieht, das lässt sich noch nicht einmal wirklich sagen.

Da verspricht partout der Konjunktiv ein wenig Perspektive und Sicherheit, wenngleich nur retrospektiv. Also ärgert man und grämt sich, dass die vielen Möglichkeiten, die es doch gegeben hätte, nicht genutzt wurden. Dass man zu zögerlich war oder zu sparsam im System, zu nachgiebig oder was auch immer. Denn hätte man nur, dann stünde die Zukunft eben nicht zur Debatte. Oder wäre wenigstens nicht so radikal in Frage gestellt.

1940, nachdem die NS-Streitkräfte Kontinentaleuropa fest im Griff hatten und Großbritannien als letzter aktiver Gegner Nazi-Deutschlands allein auf weiter Flur stand, entfaltete die Losung „Keep calm and Carry on“ Wirksamkeit. Nicht der Konjunktiv vergebener Möglichkeiten gegen Hitler-Deutschland dominierte, sondern der unbedingte Wille, die Situation in den Griff zu bekommen, sie zu meistern und den Gegner zu besiegen.

Zugegeben, das Virus ist kein verbrecherisches Regime. Der Kampf gegen Corona ist kein Weltkrieg. Und ein Winston Churchill, der die Richtung vorgibt, ist weit und breit nicht auszumachen. Trotzdem hat gerade dieses „Keep calm and Carry on“ ungeheuren Charme. Es fokussiert auf die unmittelbar anliegenden Aufgaben. Es lässt keinen Raum, larmoyant Verfehlungen anzuprangern, die Schuld bei allen anderen zu suchen und sich selbst davon frei zu machen. Diese Bestandsaufnahme kann und wird erfolgen. Wenn alle Daten und Fakten auf dem Tisch liegen, wenn sich Maßnahmen und Mitteleinsatz evaluieren lassen.

Tatsache ist, dass sehenden Auges niemand die Gefahr sehen wollte. Das gereicht unserer Spezies und unserer Kultur nicht gerade zum Vorteil. Der rückblickende Konjunktiv macht die Lage nicht besser.

Wenn man sich wundert, was alles möglich ist.© Martin Sanchez / unsplash.com

Wenn man sich wundert, was alles möglich ist.

© Martin Sanchez / unsplash.com

Und doch ist er essentiell, so er vorausblickend, vorausschauend formuliert wird. Als Ergebnis vorwärts gerichteten Denkens und, ja, Antizipierens dessen, was alles möglich sein kann. Gerade in Österreich weiß man, dass man sich noch wundern wird, was alles möglich ist.

Es infiziert das Virus nicht nur Mensch und Wirtschaft, es greift die ohnedies bereits geschwächten Demokratien und ihre offenen Gesellschaften an. Nicht erst seit den Anschlagsserien religiös-fundamentalistischer Extremisten sind Ausnahmezustand und Einschränkungen der Grundrechte auch in etablierten Demokratien an der Tagesordnung. Mindestens ebenso lange laufen extremistische Parteien und Populisten Sturm gegen demokratische Institutionen und Rechtsgrundsätze.

In einer Welt, die sich schneller verändert als je zuvor, tun sie das durchaus mit Erfolg. Denn sie versprechen Sicherheit. Sicherheit auf allen Ebenen. Sicherheit in einer unsicheren Welt. Da darf das Recht dann schon einmal der Politik folgen, wenn es denn genehm ist. Grund- und Menschenrechten wird, aus Opportunitätsgründen, ihre universelle Geltung abgesprochen. Stammen sie doch aus einer anderen Zeit und sind also nicht mehr anwendbar, weil sie sperrig sind und unbequem, weil sie von der Gesellschaft Solidarität einfordern, wo diese Solidarität so wie auch die Prinzipien, auf denen sie beruht, als lästiger Ballast empfunden werden.

Nicht, dass wir uns wundern.© Dan Meyers / unsplash.com

Nicht, dass wir uns wundern.

© Dan Meyers / unsplash.com

Richter werden verhöhnt, als realitätsfremd und politisch voreingenommen. Gerichtshöfe nach Gutdünken besetzt, in bestehende Verträge wird eingegriffen – weil das Volk es so will. Oder wenigstens, jene, die sich als das Volk deklarieren, es so haben wollen. Spott und Herabwürdigung sind stete Begleiter dieser Entwicklung. Medien und Journalisten werden als willfährige oder aber berechnende Verlautbarungsorgane im Dienste der Unwahrheit geschmäht und der subkutane Antisemitismus platzt ein ums andere Mal auf.

Die tragenden Säulen der demokratischen Gesellschaften sind ins Wanken geraten. Oder wenigstens zu bröckeln haben sie begonnen.

Und jetzt die Seuche.

Die Angst und die Unsicherheit. Die Enttäuschung.

Und hast du nicht gesehen, steigt die Bereitschaft, auf andere, auf jene, die sich nicht so verhalten, wie man sich jetzt zu verhalten hat, die zu Mehreren spazieren gehen, die auffallen, die Widerworte äußern und mehr Hysterie verorten denn Gefahr für Leib und Leben, auf alle diese lauthals hinzuweisen. Und Strafe einzufordern.

Das ist der Moment, in dem der zukunftsgerichtete Konjunktiv, die Frage nach dem, was „alles möglich ist“, bedeutend wird und wichtig.

Nicht, dass wir uns nach der Krise und in einer anderen Normalität angelangt, wieder mit dem retrospektiven Konjunktiv behelfen müssen. Und eingestehen, dass wir hätten sehen können, hätten sehen müssen, welche Gefahr das Virus für eine offene und demokratische Gesellschaft darstellt. Dann ist es zu spät. (fksk)