Daidalos´ Erbe – Das Anthropozän

Über Jahrtausende formte die Welt den Menschen. Jetzt formt er sie. Rückblickend deutet alles in der Geschichte der Menschheit auf die Epoche des Anthropozän hin. Wie sie wird, hängt allein von Homo sapiens ab.

Es muss dieses eine, dieses allererste Mal gegeben haben. Diesen Augenblick, als ein Mensch sich erstmals auf den Rücken eines Pferdes schwingt, mit den Händen in die Mähne greift, sich darin festkrallt, seine Schenkel gegen den Körper des Tieres presst, mit aller Kraft dagegen kämpft, abgeworfen zu werden. Das Pferd wird gestiegen sein, es wird Sprünge vollführt haben, es wird alle Versuche unternommen haben, diesen Fremdkörper wieder loszuwerden. Letztlich vergebens. Es wird ihn nie wieder los.

Einwirkung I – Das Zähmen von Tieren
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Der erste Reiter der Geschichte hat keinen Sattel gehabt, kein Zaumzeug und auch keine Steigbügel. Er hatte vielleicht gerade einmal ein Seil zur Hand, vor allem aber hatte er den unbedingten Willen, dieses Tier, dieses schnelle Tier, sich untertan zu machen. Es zu zähmen. Er hatte ausreichend Willen und Zähigkeit, um erfolgreich zu sein. Und erfolgreich war er. Kaum hat der Mensch das Pferd bestiegen, wächst er über sich hinaus. Er macht sich die Größe des Tieres zunutze, erweitert auf seinem Rücken sein Gesichtsfeld; er nutzt die Schnelligkeit und Wendigkeit des Vierbeiners, er macht sie zu der seinen, macht sie sich zu Eigen. Er wird, so schreibt Ulrich Raulff in „Das letzte Jahrhundert der Pferde“, zu einem kentaurischen Wesen. In den folgenden Jahrtausenden bestimmt diese Kombination zweier Säugetiere Geschichte und Kultur. Der Mensch nutzt die Stärken des Pferdes zu seinem Vorteil und macht solcherart en passant ein paar seiner Schwächen wett.

Denn der Mensch, der ist ein Mängelwesen, als ein solches nimmt er sich immer wieder wahr. Auch wenn diese Sicht so nicht stimmt, im Gegenteil. Homo sapiens ist ein grandioses Produkt der Evolution. Er ist singulär, indem er sich auf nur zwei Beinen fortbewegt, wodurch er seine vorderen Extremitäten frei für andere Aktivitäten hat. Für das Greifen, zur Hand nehmen, zum Arbeiten. Seine Finger sind Instrumente, die es ihm erlauben selbst aus rohem Stein scharfe Werkzeuge anzufertigen, feinmechanische Apparate zu konstruieren, feinziselierte Kunstwerke zu schaffen. Homo sapiens verfügt zudem über ein extrem leistungsfähiges Gehirn, somit über herausragende kognitive Eigenschaften und – das Werkzeug der Sprache.

In Summe ist die Gattung Mensch in ihren Anlagen also alles andere denn ein mangelhaftes Wesen. Diese und weitere Voraussetzungen, zumal seine Ausdauer, ausdifferenziert und im Zusammenspiel, unterscheiden Homo sapiens von allen anderen Wesen auf diesem Planeten.

 

Mängelwesen und Zufallsprodukt

Gleichzeitig aber ist er tatsächlich doch nur ein Zufallsprodukt der Evolution. All seinen Stärken zum Trotz ein schwaches, verletzliches Wesen. In seiner körperlichen Grundausstattung ist er leichte Beute für Raubtiere, für diese ist er nicht einmal Konkurrenz in der Jagd. Einmal in seiner Vorgeschichte, vor rund 70.000 Jahren, ist er sogar vom Aussterben bedroht, reduziert auf eine kleine Restgruppe von gerade einmal knapp 2.000 Individuen der Gattung Homo sapiens. Nach heutigen Maßstäben ein Fall für die Rote Liste der vom Aussterben bedrohten Arten.

Doch dann legt er ein Comeback hin, wie es in der Erdgeschichte wohl einzigartig ist. Und es wäre verführerisch zu mutmaßen, diese frühe Erfahrung der eigenen Verwundbarkeit, der Beinah-Auslöschung, hätte sein Bewusstsein geformt, sei über Generationen und Jahrtausende in Geschichten und Erzählungen tradiert worden, eine frühe Kränkung, die der Mensch in der Folge wettzumachen suchte – in Worten ist dieser Einschnitt nicht überliefert, tatsächlich aber hat er Spuren in unserer Erbinformation hinterlassen, ist genetisch codiert und somit gleichsam subkutan immer noch präsent, in jedem einzelnen Menschen auf diesem Planeten.

Es gibt indes in der Geschichte des Homo sapiens genügend andere elementare Katastrophen, die sein Bewusstsein geprägt haben, seine Art zu denken, die Welt zu sehen und sich selbst. Doch dazu später.

Einwirkung II – Die Zucht von Getreide, Obst- und Gemüse
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Das, was den Menschen mit Stolz erfüllt, das, was ihn von anderen Tieren unterscheidet, das ist sein Gehirn. Das sind seine Denkleistungen, die Fähigkeit, in die Zukunft und in die Vergangenheit zu denken, und mit Hilfe dieser Gedanken radikal neue Wege einzuschlagen. Das ist, was ihn einzigartig macht. Dieser Einzigartigkeit ist sich der Mensch, Homo sapiens, sehr wohl bewusst.

Wann er beginnt, sich mit anderen Wesen zu vergleichen, wann er denn zu dem Schluss gelangt, die „Krone der Schöpfung“ zu sein, das verliert sich irgendwo in den Nebeln der Frühgeschichte. Mag sein, dass bereits in der Altsteinzeit unsere Vorfahren der Gattung Homo erectus erkannten, dass sie sich grundlegend anders verhalten als andere Säugetiere. Dass sie neidvoll auf deren Kraft, Gewandtheit, Ausdauer, Wachsamkeit und Schnelligkeit blickten, auf jene, die sich in die Lüfte schwingen können, auf jene, die in die tiefsten Tiefen abtauchen. Auf jene Tiere, die selbst eisigsten Temperaturen trotzen, die kein Feuer benötigen, welches in langen Nächten niemals ausgehen darf. Mutmaßungen samt und sonders.

 

Von Gottheiten geschaffen und privilegiert

Fest steht freilich, dass Homo sapiens, spätestens nachdem seine Mitmenschen Homo neanderthalensis und Homo denisova die Bühne der Weltgeschichte verlassen haben, und es keine Konkurrenz mehr in Belangen der Einzigartigkeit gibt, dass er sich als von Gottheiten erschaffen und also privilegiert wähnt.

Er wird sich seiner bewusst.

Er ist sich seiner in einer ganz anderen Art und Weise bewusst, als es andere kognitiv begabte Tiere sind. Das Bewusstsein des Homo sapiens ist geprägt durch die Fähigkeit der Selbsterkenntnis, die Fähigkeit über sich selbst als Individuum wie als Gattung zu reflektieren.

Vergleicht sich nun der Mensch, damals in den Jahrtausenden der Altsteinzeit oder auch in der Jungsteinzeit mit anderen Lebewesen, dann stechen ihm seine Nachteile in Sachen Kraft und Wahrnehmung ins Auge. Doch einfach hinnehmen will er sie nicht, das entspräche nicht seinem Wesen. Also sucht er sie zu überwinden, indem er Zauber spricht; versucht, die Eigenschaften der Tiere zu den seinen zu machen, indem er die Tiere bannt, indem er davon träumt, seinen Geist in den Körper der Tiere zu transferieren, um ihre Stärken zu den seinen zu machen. Er schlüpft in ihre Felle, bedient sich ihrer Knochen, kürt sie zu seinen Totems, zu seinen Geistwesen.

In seiner Phantasie und in seinem Glauben bevölkern sie Seite an Seite mit Geistern und Gottwesen die Welt, bereit, bei Wohlverhalten des Menschen ihn an ihren Vorteilen teilhaben zu lassen.

Im Alltag aber kann er sich darauf nicht verlassen. Sein Geistwesen mag ihn inspirieren, es mag ihn geradezu beflügeln, seine naturgegebenen Nachteile in der Konkurrenz um Beute macht es nicht wett. Dazu bedient er sich eines anderen Geistes, seiner kognitiven Kapazitäten. Er setzt seine taktilen Fähigkeiten ein, er beginnt seine Umwelt zu formen, sie sich zu nutze zu machen. Mehr als jedes andere Tier auf diesem Planeten ist er dazu in der Lage. Mithin ist das Zeitalter des Menschen, das Anthropozän, ihm gleichsam in die Wiege gelegt. Der Erfolg des Homo sapiens, und evolutionär betrachtet ist Erfolg gleichzusetzen mit zu überleben und sich fortzupflanzen, dieser Erfolg ist davon abhängig, wie sehr er die Welt nach seinen Bedürfnissen zu gestalten in der Lage ist.

Sein Einwirken ist dabei anfangs nicht notwendigerweise auf ein finales Ziel ausgerichtet, vielmehr auf das nackte Überleben, allenfalls auf ein einfaches, ein nicht ganz so mühsames Überleben. Er beginnt seine Vorteile, seine Stärken auszuspielen. Zum Beispiel das Überraschungsmoment seines erstmaligen Auftretens.

 

Folgenreiche Welterschließung

Als Homo sapiens im Zuge seiner globalen Wanderung Australien erreicht, ist er mit einer Tierwelt konfrontiert, die gänzlich anders zusammengesetzt ist als heute. Es gibt Großtiere, beuteltierähnliche Wesen von den Ausmaßen eines Nashorns und Riesenkängurus von drei Metern Körpergröße sowie Riesenechsen von sechs Metern Länge, dazu den Beutellöwen und den Beuteltapir, doch auf diesen neuen Konkurrenten sind sie alle evolutionär nicht vorbereitet, sie bringen ihm keine Scheu entgegen – was der Mensch umgehend nutzt. Die großen Tiere sind leichte, reiche Beute.

Ebenso verhält es sich in den beiden Amerikas, kaum tritt Homo sapiens auf den Plan, geht es dem Präriemammut, dem amerikanischen Mastodon, den amerikanischen Kamelen, Säbelzahnkatzen und Riesenfaultieren im Sinne des Wortes an den Kragen, selbst das Pferd verschwindet und kehrt erst durch die spanische Conquista zurück. In Europa treten Wollmammut, Wollnashorn, Riesenhirsch, Steppenwisent und Höhlenlöwe ab. Weltweit werden rund 101 Arten der Megafauna, Tiere mit einem Körpergewicht von mehr als 45 Kilogramm, schlichtweg ausgelöscht.

Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von der Quartären Aussterbewelle am Ende der letzten Kaltzeit. Selbst wenn klimatische Einflüsse eine Rolle gespielt haben mögen, auffallend ist doch, wie sehr das Vergehen der Megafauna mit dem Auftreten Homo sapiens in diesen Regionen korreliert. Manche Forscher, wie Nicole Boivin, orten daher die Hauptverantwortung bei unseren Vorfahren. Es wäre, es ist, demnach das erste Massensterben, welches der Mensch maßgeblich mitzuverantworten hat. Ein schweres Erbe, welches die Menschheit da mit sich trägt, zumindest aus heutiger Sicht. Ungeschehen kann dieser Prozess nicht mehr gemacht werden.

Diese erste massive Einwirkung Homo sapiens auf die Vielfalt der Arten ist vor rund 10.000 Jahren abgeschlossen. Bewirkt schlicht durch sein Erscheinen, ausgestattet mit Werkzeugen, mit spitzen, scharfen Klingen, Pfeilen und Speeren sowie mit der Fähigkeit, Feuer zu legen; bereit, alle Regionen und Klimazonen des Planeten sich als Lebensraum zu erschließen.

Einwirkung III – Die Zucht von Nutztieren
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Und um – in einem nächsten Schritt – dem Dasein als Jäger und Sammler zusehends zu entsagen. Homo sapiens wird sesshaft. Womit er seine Umwelt ein weiteres Mal prägt, ihr seinen Stempel aufdrückt, nachhaltiger noch als durch seine bloße Präsenz.

Er beginnt Wälder zu roden, Land urbar zu machen, Tiere zu zähmen und zu züchten, er legt Siedlungen an, errichtet sakrale Bauten, befestigte Wege. Er terrassiert Berge, gräbt Kanäle, wuchtet Mauern empor und hinterlässt so zusehends seine Spuren in der Landschaft.

Dabei ist alles das noch immer kein Triumph, kein Sieg über die Natur oder die Wildnis. Wieder und wieder müssen unsere Vorfahren erfahren, wie schutzlos sie angesichts der Naturgewalten sind, ausgesetzt den Launen des Wetters, von denen wiederum die Ernte abhängen mag, von eiskalten Wintern, konfrontiert mit Heuschreckenschwärmen, mit Krankheiten, Feuersbrünsten und Überschwemmungen. Es ist ein Leben in Unzulänglichkeit und steter Unberechenbarkeit.

Dann und wann blitzt in den Erzählungen der Menschheit quer durch alle Kulturen ein Motiv auf, welches von seliger Unwissenheit erzählt, von einem Garten Eden, von einer Zeit vor Prometheus, der den Menschen zwar wohl das Feuer und das Wissen bringt, die dafür von den Göttern mit Pandora bestraft werden, die Seuchen, Unglück, Schmerz und Leid über die Welt bringt. Irgendeinen Ausgleich braucht es ja. So wie auch in der Genesis des Alten Testaments Adam und Eva, nachdem sie von dem Baum der Erkenntnis gekostet haben, sich erkennen, aus dem Paradies vertrieben und fortan in Schmerzen gebären und im Schweiße des Angesichts sich ihr täglich Brot verdienen müssen.

Folgt man dem israelischen Universalhistoriker Yuval Harari, dann hat die Menschheit tatsächlich eine Art Paradies erleben dürfen, und es war die Altsteinzeit, die längste Epoche, die die Gattung Homo durchlebt hat, als Jäger und Sammler, frei von der Fron der Landarbeit.

 

Und dann kommt Daidalos

Es ist anders gekommen. Mit der neolithischen Revolution erfindet Homo sapiens die Landwirtschaft (Yuval Harari vertritt die These, dass es wohl eigentlich der Weizen gewesen sei, der den Menschen dazu gebracht hat, das Umherstreifen aufzugeben und stattdessen Bauer zu werden). Und mit der Landwirtschaft gehen die ersten Zivilisationen einher.

Jene im Zwischenstromland, von der uns das Gilgamesch-Epos erhalten geblieben ist, in dem das Verhältnis des Menschen zur Natur, zur Wildnis beschrieben wird, in dem eine scharfe Abgrenzung zwischen der Stadt und der Kultur und dem anderen da draußen gezogen wird. Jene im Niltal, die als erste einen Eingottglauben formuliert, der weiterlebt im Judentum (wenn man denn Sigmund Freud und Jan Assmann folgen will), aber immer noch sind es Zivilisationen und Kulturen, die sich dem göttlichen Wesen nahe glauben. Aus ihrer Sicht auch nahe wissen.

Und dann kommt Daidalos.

Der radikalste Mythos der griechischen Antike, eine komplette Abkehr von der göttlich-menschlichen Kooperation. Erstmals betritt in einer Erzählung eine Person die Bühne, die ohne divinen Beistand, ohne Nymphen oder Musen das Auslangen findet, ein Mensch, der stattdessen ausschließlich aus sich selbst schöpft.

Gemeinhin ist der Todessturz seines Sohnes Ikaros bekannter, in gewisser Weise ist er auch gefälliger, als ein Mensch allen Warnungen zum Trotz seine Grenzen überschreitet und dafür bestraft wird. Das aber ist gar nicht der Kern der Geschichte um Daidalos. Das ist nur eine moralische Wertung, die den Blick auf die wahre Sensation verstellt, auf das erste Wirken eines Individuums aus sich selbst heraus. Frei von wie auch immer gearteten göttlichen Beistand.

Einwirkung IV – Selbsterkenntnis und Spiegelung
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Daidalos also. Von ihm berichtet der Mythos er sei der erste Mensch gewesen, der Statuen so anschaulich, so lieblich, so perfekt zu gestalten wusste, dass man meinen konnte, sie lebten. Sein Ruhm als Künstler reicht weit über Athen hinaus, und die Athener sind stolz auf ihn, auf diesen Meister, der innerhalb ihrer Mauern wohnt, der durch seine Kunst, durch seine kreativen Gedankenflüge den Ruhm ihrer Stadt mehrt. Dann aber erwächst dem Daidalos Konkurrenz in Person seines Neffen Talos, der nicht minder begabt ist, der Werkzeuge von der Töpferscheibe bis hin zur Säge entwickelt und erfindet, und dem alsbald die Herzen der Athener ebenso zufliegen. Als nun dem Älteren der Liebesentzug der Menschen droht, greift er zu radikalen Mitteln, er stößt, in einem unbeobachteten Moment, den Neffen von der Akropolis in den Tod. Beim Verscharren des Leichnams aber wird Daidalos ertappt und ergreift, mit seinem Sohn Ikaros, die Flucht nach Kreta, zu König Minos.

Das gewährte Asyl hat seinen Preis, er muss das Labyrinth errichten, in welches der Minotaurus gesperrt wird, schlimmer noch (die Aufgabe selbst wird reizvoll für ihn gewesen sein), er darf die Insel nicht mehr verlassen.

Doch Daidalos wäre nicht er, wäre nicht dieser Leonardo da Vinci der griechischen Antike, fände er keinen Ausweg. Es sind die Flügel, die er konstruiert, sich selbst und seinem Sohn anpasst, mit denen sie fliegend von Kreta fliehen. Dabei erweist sich Daidalos nicht nur als Konstrukteur, er weiß auch um die Sollbruchstellen seiner Konstruktion, die Gefahr, die von zu viel Hitze oder zu viel Feuchtigkeit ausgeht. In diesem Sinne instruiert er denn auch seinen Sohn, der – natürlich – im Überschwang der Gefühle dann doch der Sonne entgegenstrebt und abstürzt.

Daidalos aber gelangt nach Sizilien, wo er wieder als Baumeister und Ingenieur tätig wird, wo er einen künstlichen See und einen künstlichen Fluss anlegen lässt, wo er auf dem steilsten Felsen eine uneinnehmbare Stadt baut und wo er in einer Grotte den Dampf unterirdischen Feuers so geschickt auffängt und ableitet, dass die Höhle so angenehm wie ein mäßig beheiztes Zimmer wird.

 

Der Mensch als Weltenbauer

Alles das und noch viel mehr schafft Daidalos aus sich heraus. Kein einziges Mal tritt ein Gott oder ein Götterbote an seine Seite, nie taucht die ewig kluge Athene auf, um ihn zu unterweisen, nie Apollon, und Aphrodite schon gar nicht. Nicht einmal von Zeus ist ein dumpfes Grollen zu vernehmen. Im Mythos des Daidalos gibt es keine Götter, keine Musen, keine Erinnyen. Sie sind verschwunden, sie spielen keine Rolle mehr, nicht im Leben des Daidalos, nicht im Leben jener Menschen, die so wie er konstruieren, beobachten, hinterfragen, die forschen und sich auf die Kraft ihres Geistes verlassen. Die Daidalos-Erzählung ist der erste Mythos frei von metaphysischen Kräften. Einer, der von einem neuen Selbstbewusstsein der Menschen berichtet. Davon, zu welchen geistigen Höhenflügen und massiven Eingriffen in seine Umwelt der Mensch in der Lage ist.

Als Daidalos ist Homo sapiens erfolgreich, es ist ihm seine zweite Natur, die sich in seiner kulturellen Evolution manifestiert. Sie ist in ihrem Wesen ungleich schneller und flexibler, sie baut auf Wissen und Erkenntnis auf, auf Techniken und Technologien, die immer weiter entwickelt, immer weiter verfeinert und tradiert werden. Dann und wann erlebt sie Rückschläge, stagniert sie, allein, sie ist in der Welt, bricht sich immer wieder Bahn.

Es ist, angesichts der Dauer der Menschheitsgeschichte, ein bemerkenswert kurzer Zeitraum, ab dem die kulturelle Evolution zum Tragen kommt. Ihr Beginn kann mit der neolithischen Revolution, mit dem Sesshaftwerden der Menschen, mit der Entwicklung der Landwirtschaft ungefähr datiert werden. Oder auch erst mit dem Entstehen von Städten, Tempeln, der Schrift. Ein wenig früher, ein wenig später, es ändert nichts daran, dass wir letztlich von nur ein paar tausend Jahren sprechen. Einem Wimpernschlag in der Geschichte.

Also greift Homo sapiens in die Natur ein. Er macht sie sich zu Nutze. Erkennt, wo sich Dämme errichten lassen und wo Kanäle, er hievt ganze Städte auf Berggipfel, verbindet Siedlungen mit Straßen und orientiert sich dabei an den geologischen Gegebenheiten, die es ihm einfacher machen, diese Wege anzulegen. Er hat ein feines Gespür dafür entwickelt, wo er seine Zeichen, seine Bauwerke einbetten kann. Er errichtet sich sein eigenes Habitat, um anders, um besser überleben zu können.

Er erkennt, dass sich die Welt gestalten lässt. Nichts ist so, dass es nicht optimiert, besser auf seine Bedürfnisse hin geschnitten werden könnte. Homo sapiens entwirft Gärten, die einem Idealbild entsprechen. Er imitiert die Natur nicht nur, er sucht sie zu übertreffen, wird zum Schöpfer im Kleinen. Wird zum Weltenbauer.

Einwirkung V – Die Gestaltung der Landschaft
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Und was ihm hier gelingt, das gelingt ihm ebenso mit Flora und Fauna. Die Zahl der unterschiedlichen Nutztierrassen, die präzise an jeweiligen Bedingungen angepasst, im Laufe der Zeit gezüchtet werden, geht wohl in die Zehntausende. Hühner und Rinder, Schafe und Ziegen, Kamele, Trampeltiere, Pferde, Esel, Schweine, Lamas und Hunde, selbst Fische und Vögel. Homo sapiens schafft sich seine Menagerie. Nach seinen Vorstellungen. Gezielt und mit Bedacht. Gleiches gilt für Pflanzen, von Getreidesorten über Obst und Gemüse, Erbsen, Paradeiser und Kartoffeln, Karotten, Rüben, Kürbisse, Äpfel, Birnen, Zitronen und Orangen, Weizen, Hafer, Roggen, Reis und Dinkel bis hin zu Bäumen und Sträuchern und Blumen. Nichts ist vor dem schöpferischen Eingriff des Menschen sicher.

 

Schmerzhafte Grenzen

So prägt er die Welt, gestaltet sie zusehends nach seinen Bedürfnissen. Er macht damit einen Teil seiner Mängel, die ihm nach wie vor immer wieder schmerzhaft vor Augen geführt werden, wett. Denn es sind nicht nur Missernten, Unwetter, Feuersbrünste, Katastrophen und Kriege, die ihm immer wieder zusetzen, geht es um ihn an sich, um seinen Körper, dann stößt er schnell an Grenzen. An äußerst schmerzhafte. Krankheiten, Gebrechen, die Mühsal des Alters, Folgen von Unfällen und Verletzungen, das Leben ist wahrlich kein Honigschlecken. Nicht in diesem Körper, der so anfällig ist, so zerbrechlich.

Das eine oder andere lässt sich, behelfsmäßig, beheben. Eine Prothese hier, eine Brille da, und dort ein Hörrohr. Auch das aber immer nur als Minderheitenprogramm.

Aber es muss mehr möglich sein. Also werden Krankheiten katalogisiert, beschrieben, analysiert, es werden Behandlungsmethoden und Arzneien entwickelt. Bereits im alten Ägypten werden um 1850 vor unserer Zeitrechnung Amputationen und Trepanationen durchgeführt, werden selbst veterinärmedizinische Behandlungen ersonnen und festgehalten. Später entwickeln die Griechen medizinische Schulen, dem Hippokrates von Kos wird das erste sittliche Grundgesetz der Ärzte zugeschrieben.

Aber ach, die Menschen sterben dennoch wie die Fliegen, werden selten nur alt, verlieren ihr Augenlicht, ihre Rücken krümmen sich, die Glieder schmerzen, Wunden nässen – das Leben ist, allen Einwirkungen auf die Umwelt zum Trotz, eine Qual. Seuchen brechen aus, gehen wie ein himmlisches Strafgericht hernieder. Manche Krankheiten wandern mit den Menschen, tragen zum Niedergang ganzer Zivilisationen bei.

Es ist ein stetes Auf und Ab. Kaum erholt sich der Bestand an Homo sapiens (von denen die meisten damals schon in Indien und China lebten), so kommt fast unweigerlich wieder ein Einbruch. Ob durch klimatische Veränderungen, meist in Form und Gestalt von Kaltzeiten, oder durch neue Krankheiten. Vor 2.000 Jahren, so wird geschätzt, leben zwischen 170 und 400 Millionen Menschen. Für das Jahr 1700 gehen Forscher von rund 500 Millionen aus, manche sehen auch die Möglichkeit, dass es fast 650 Millionen Menschen gewesen sein können, die damals den Planeten bevölkerten. Das ist nun wohl ein Zuwachs, ein großes Plus über einen Zeitraum von beinahe zwei Jahrtausenden ist es indes nicht.

Mit dem 18. Jahrhundert aber ändert sich das. Es stellt gewissermaßen die Wasserscheide dar. Von nun an geht es in großen Schritten weiter, nehmen die Zuwachsraten deutlich zu, scheint es, als sei eine Bremse gelockert, eine Blockade gelöst worden. In nur drei Jahrhunderten wächst die Weltbevölkerung auf siebeneinhalb Milliarden Menschen an. In nur drei Jahrhunderten wirkt Homo sapiens so radikal auf den Planeten, auf seine Flora und Fauna, auf Ozeane und Kontinente ein, wie kein Wesen je vor ihm. Die industrielle Revolution setzt Kräfte frei, die das Unterste zuoberst kehren. Sie macht der kulturellen Evolution ordentlich Dampf.

Im Sinne des Wortes.

 

Es gibt kein Halten mehr

1764 erhält ein Universitätsmechaniker in Glasgow den Auftrag, eine Dampfmaschine zu reparieren. Apparate dieser Art werden seit 1690 konstruiert, wiewohl die Idee, die Kraft verdampfenden Wassers zu nutzen, schon in der griechischen Antike bekannt war (Archimedes von Syrakus soll eine Dampfkanone entworfen haben, Leonardo da Vinci hatte sich später mit ihrem Prinzip auseinandergesetzt). Doch nun gegen Ende des 17. Jahrhunderts arbeiten Wissenschaftler in Frankreich und Großbritannien an echten Dampfmaschinen. Erfolgreich.

In Paris stellt Denis Papin seine Dampfmaschine vor, mit der späterhin die Wasserspiele des Landgrafen von Marburg betrieben werden. In London entwickelt Thomas Newcomen eine atmosphärische Dampfmaschine, die dazu dient, Grundwasser aus Bergwerken abzupumpen. Laute, komplizierte Maschinen, energiefressend und störanfällig. Es ist ein Modell nach der Art von Newcomen, welches in der Werkstatt des Glasgower Universitätsmechanikers James Watt landet, versehen mit dem Auftrag, es zu reparieren. Watt, hochbegabt und wissbegierig, nimmt sich der Maschine an. Er setzt sie nicht nur wieder instand. Er verbessert sie. Indem er dem Kessel einen Kondensator vorschaltet, ein Kniff, der die Leistung der Maschine deutlich steigert. Von nun an arbeitet Watt, man darf annehmen fieberhaft, an der Vervollkommnung dieser Apparatur. 1781 meldet er sein Patent an, mit fünf verschiedenen Methoden, die Kraft auf die Antriebswelle zu übersetzen. Er muss, aus patentrechtlichen Gründen, auch noch das Zahnrad neu entwickeln. Bisher schon die Schwachstelle schlechthin, da die Zahnräder brechen. Erst die Veränderung der Zahnform zu Zykloiden bringt den Durchbruch und Haltbarkeit. 1782 treibt die erste Watt´sche Dampfmaschine einen Schmiedehammer an. Und der Konstrukteur beschreibt sogleich den großen Vorteil: „Nun vermag die Maschine in unseren Fabriken, Mühlen und anderen Betrieben Wasser-, Wind- und Pferdekraft zu ersetzen; jetzt braucht die Fabrik nicht mehr zur Kraft gehen, sondern diese geht überall dahin, wo es dem Unternehmer am zweckmäßigsten ist.“

Einwirkung VI – Die Entwicklung von Dampfmaschine und Verbrennungsmotor
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1788 werden zwei Dampfmaschinen zusammengeschlossen und erbringen eine Leistung von 150 Pferdestärken (PS). Um 1800 kommen die ersten Hochdruckdampfmaschinen auf den Markt und von nun an gibt es kein Halten mehr (zumal das Patent Watts ausgelaufen ist): Immer neue Einsatzgebiete werden für immer bessere, immer leistungsfähigere Maschinen ersonnen. 1807 läuft das erste Dampfschiff in den USA vom Stapel, 1812 in England. Sie werden in Kutschen eingebaut – und in Schienenfahrzeuge. Die Dampfmaschine verändert die Welt von Grund auf.

1825 wird die erste Bahnstrecke mit einer Lokomotive George Stephensons in Betrieb genommen.  Sie misst 14,4 Kilometer. Ein bescheidener Beginn. 1830 gibt es weltweit 332, 1840 schon 8.591 und 1850 stolze 38.022 Kilometer Eisenbahnstrecken, über die, Ruß und Dampf ausstoßend, Lokomotiven fahren, Züge ziehen. Güter und Menschen von A nach B bringen. Schneller als je zu vor. 1885 sind gerade erst einmal 60 Jahre vergangen, da hat sich das globale Schienennetz auf fast 450.000 Kilometer vervielfacht.

Über Jahrtausende war es Homo sapiens nicht möglich, schneller als zu Fuß unterwegs zu sein. Allenfalls zu Pferde konnte er größere Strecken in kürzerer Zeit zurücklegen. Ein Privileg für wenige. Waren mussten mit langsamen Gespannen, auf Esel- und Pferderücken über Saumpfade, auf Flößen und Flussschiffen an Stromschnellen vorbei transportiert werden. Binnen eines Menschenlebens schnürt nun die Welt, verbunden durch Schienenstränge, zusammen.

So wie die Transportgeschwindigkeit und -kapazität geradezu exponentiell anwachsen, so rasant ändert sich das Wirtschaftsleben. Die Industrialisierung nimmt Schwung auf, wo gestern noch Waren und Produkte in Handarbeit, allenfalls mithilfe von Wasserkraft, Feuer und Amboss gefertigt wurden, machen sich Fabriken breit. Produzieren mehr, viel mehr in kürzerer Zeit, beschäftigen nach einiger Zeit mehr Menschen als je zuvor, bringen alte Gewissheiten zum Einsturz. In den Kohlerevieren Europas macht sich Goldgräberstimmung breit. In Schlesien, in Belgien, im deutschen Ruhrgebiet, in Wales. Wo zuvor nichts war, dort liegt nun der Treibstoff für das neue Zeitalter, für die Ära der Dampfmaschine. Fabrikschlote ragen empor, Kathedralen des 19. Jahrhunderts.

 

Im Rausch der Geschwindigkeit

Befeuert durch die Industrialisierung nimmt die kulturelle Evolution Fahrt auf. Und erreicht ein irrwitziges Tempo. Binnen zweier Jahrhunderte verändert Homo sapiens das Aussehen und Gestalt der Welt tiefgreifender und nachhaltiger als er es sich in seinen Träumen je vorzustellen vermochte. Er spaltet Berge, verbindet Ozeane, leitet Flüsse und Ströme um. Er erschließt bisher unzugängliche und abgeschiedene Räume, macht sie sich nutzbar. Er gewinnt neue Erkenntnisse, lernt, sich selbst besser zu verstehen, seinen Mängeln zu begegnen. Er spaltet Atome, decodiert die Erbinformation, landet auf dem Mond und entsendet Satelliten und Sonden bis an den Rand des bekannten Universums.

Mehr noch. War die menschliche Gesellschaft über die Jahrhunderte eine tendenziell gefährliche, in der Raub, Mord und Todschlag durchaus an der Tagesordnung waren; in der Krankheiten und Gebrechen herrschten; in der Bildung und Möglichkeiten, ein besseres Leben zu leben auf einen kleinen, allerkleinsten Kreis beschränkt waren; in der Menschen anderer Regionen wenig oder nichts galten, so entwickelt die Menschheit so etwas wie ein gemeinsames Gewissen. Ein Gefühl der Verantwortung und der allgemeinen Gleichheit in Würde und Rechten.

Man könnte meinen, nun sei alles gut. Was vor Jahrtausenden seine vielen Anfänge nahm, von der Kunst des Feuermachens über die Erfindung der Schrift und auch mit der Zähmung des Pferdes, sei zu einem guten Ergebnis gelangt.  Tatsächlich aber steht die Menschheit, steht Homo sapiens vor der größten Herausforderung seiner Existenz.

Seine Eingriffe sind in Summe so gravierend und radikal, dass nichts mehr ist, wie es war und nichts mehr so werden kann, wie es einmal gewesen ist. Mit der Industriellen Revolution ist die immerzu ansteigende Emission von Treibhausgasen verbunden, die sich nicht abschwächt. Im Gegenteil. Mit der Entschlüsselung des genetischen Codes ist der Menschheit ein Instrument in die Hände gegeben, mit welchem sie sich selbst grundlegend verändern kann. Unwiderruflich. Und mit der Entwicklung einer digitalen künstlichen Intelligenz beschleunigt sie die kulturelle Evolution noch einmal und das um ein Vielfaches.

Phänomene, die die Basis menschlichen Selbstverständnisses in Frage stellen. Die Existenz Homo sapiens und der Welt, wie sie bisher war.

Vielleicht ging es den ersten Reitern ähnlich, als sie feststellen mussten, dass auf dem Pferd zu sitzen noch gar nichts bedeutet, sondern die Kraft und Wendigkeit des Tieres unter ihnen in Bahnen gelenkt werden musste. Als sie angesichts ungestümer Galoppaden und Sprünge über die unwahrscheinlichsten Hindernisse abgeworfen zu werden drohten und oftmals auch abgeworfen wurden, Hals und Bein sich brachen. Als sie die Kontrolle zu verlieren drohten und verloren. Also ersannen sie nicht nur Zaumzeug und Sattel, sondern auch Steigbügel, Gebisse und Ausbildung von Tier und Menschen – um einwirken zu können. Sie beschäftigten sich eingehend und über Generationen so sehr mit dem Pferd, bis sie es zu verstehen in der Lage waren und somit in der Lage, es zu lenken, sich seine Potentiale in vollem Umfang zu erschließen.

Einwirkung VII – Der Einsatz allen Wissens und aller Technologie
© Ryoji Iwata/unsplash.com

In gewisser Weise steht Homo sapiens heute vor exakt der gleichen Aufgabe. Er hat alles Wissen und sämtliche Instrumentarien zur Hand, der rasanten Entwicklung eine Richtung zu verleihen. Er, und mit ihm die Welt, ist in einer neuen Epoche angekommen. Im Anthropozän, in dem nichts mehr so ist, wie es früher einmal gewesen ist. Angst braucht er dabei keine zu haben. Er kann vielmehr die Welt einmal mehr neu gewinnen. (fksk, 2022)

Frei von Göttlichkeit

Wie der Glaube an einen Gott den Wissenschaften den Weg bereitete. Und welche Rolle Echnaton und Moses für die Eroberung des Weltalls spielen. Eine Spurensuche.

Im Weltall: Ed White 1965 © NASA

Wann beginnt die Geschichte der Raumfahrt? Mit Jules Vernes Roman „Von der Erde zum Mond” im Jahr 1865? Mit Konstantin Ziolkowskis Theorie über den Raketenantrieb um 1900? Oder doch erst mit Juri Gagarin, der 1961 als erster Mensch in den Weltraum vorstößt? Der Professor für Altes Testament an der Universität Wien, Walter Kornfeld, überraschte im Jahr 1970, die erste Mondlandung war noch frisch in Erinnerung, seine Studenten. Thema seiner Vorlesung war die biblische Schöpfungsgeschichte. Genauer gesagt, Genesis 1,16: „Und Gott machte zwei große Lichter: ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere”. Notburga Mayrhofer erinnert sich lebhaft an den Moment, als er kurz und knapp sagte: „Meine Damen und Herren, hier beginnt die Geschichte der Raumfahrt.“

Bei einem Vortrag in Innsbruck, 40 Jahre später, erklärt Mayrhofer, als Schwester Beatrix Provinzoberin der Armen Schulschwestern: „Das mag im Moment verwunderlich klingen. Aber wenn man den Text genau ansieht, dann nennt der biblische Schriftsteller die von vielen Völkern so göttlich verehrte Sonne und den Mond ganz despektierlich bloß ,Lampen‘. Gott macht Lampen und hängt sie an den Himmel. Ja, weil das All Gottes Schöpfung und nicht Gott selbst ist, eröffnet sich das Tor zur Forschung. Gerade die Entmythologisierung des Kosmos ist die Voraussetzung für seine wissenschaftliche Erforschung.“

Eine religiöse Erzählung als „Voraussetzung“ von Wissenschaft und Forschung? Das ist starker Tobak. Aber nicht ganz von der Hand zu weisen.

ES KANN NUR EINEN GEBEN

Eine Revolution bricht ab 1353 v. Chr. über Ägypten herein. Der Pharao sendet seine Männer aus, die Namen der alten Götter zu tilgen. Sie zerkratzen ihre Namen in den Tempeln, sie verbieten die alten Riten. Niemand mehr darf den Göttern opfern, niemand mehr ihre Statuen baden und kleiden. Selbst Balsamierer und Mumizierer verlieren Aufträge, an Ansehen und Einfluss. Nur eine Gottheit zählt: Aton. Symbolisiert durch die Strahlen der Sonne. Gestaltlos und allmächtig.

In Kairo: Echnaton © Wikimedia/HoremWeb

Während die alten Tempel leer stehen und dem Verfall preisgegeben werden, wird in Theben ein 600 Meter langes Opferareal errichtet. Altar reiht sich an Altar. Jeden Morgen wird hier dem Aton geopfert. Wird das Fleisch zahlloser frisch geschlachteter Rinder und Hühner den Strahlen der Sonne entgegengehalten.

Echnaton, der „Ketzer-Pharao”, von dem nur wenige Reliefs mit einem in die Länge gezogenen Hinterkopf und Wulstlippen erhalten sind (die Büste seiner Gattin Nofretete hingegen ist heute in Berlin zu sehen) herrscht 17 Jahre. Sein (mutmaßlicher) Kurzzeitnachfolger Semenchkare hält am Aton-Kult fest. Dann besteigt Tutanchaton den Thron der Pharaonen – und geht als Tutanachamun in die Geschichte ein. Ägypten aber kehrt mit ihm zurück zu seinen alten Göttern. Ramses der Große lässt den Namen Echnatons zur Sicherheit aus den Königsbüchern tilgen. Nichts soll an den Irrweg erinnern. Es herrscht wieder Friede in der Götterwelt der Ägypter. Zurück kehren Isis und Osiris, Seth und Horus. Zurück kehrt die ewige Ordnung des Kreislaufs aus Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt.

Etwas mehr als 20 Jahre dominiert der Aton-Kult Ägypten. Eine kurze Zeitspanne, verglichen mit der mehrtausendjährigen Geschichte des pharaonischen Reichs. Eigentlich nur eine Fußnote. Eine Irritation allenfalls. Die aber hält bis heute an.

URSPRUNG STATT SCHÖPFUNG

Echnaton fasziniert. Kaum wird er um 1900 von Archäologen wiederentdeckt, vermuten Ägyptologen wie der Amerikaner James Breasted oder der deutsche Althistoriker Eduard Mayer einen Zusammen- hang zwischen ihm und dem Propheten Moses. Sigmund Freud nimmt sich ebenfalls des Themas an. 1937 erscheint sein letztes großes Werk „Der Mann Mose und die monotheistische Religion“. Auch er ortet den Ursprung des altisraelischen Eingottglaubens bei Echnaton. Moses, so postuliert er, sei eigentlich ein Aton-Priester, der das geistige Erbe des Pharaos aufrechterhält. Den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten deutet er als die Abwendung vom alten Vielgottglauben.

Für den Aton-Priester Moses hat die Archäologie bis dato keinen Beleg gefunden. Dass aber die Religion des Moses eine unmittelbare Reaktion auf die altägyptische Götterwelt ist, dafür spricht vieles. Mit Folgen, die unser Bild der Welt nachhaltig beeinflussen.

Für die Ägypter, so der in Konstanz lebende Ägyptologe Jan Assmann bei einem Vortrag in Innsbruck 2010, steht am Anfang der Welt nicht etwa ein Schöpfungsakt als vielmehr ein Ursprung. „Diesen Ursprung stellten die alten Ägypter sich als Spontangenese eines Urgottes vor, der als Sonne aufging und durch seine Strahlung die Welt aus sich entließ, die sich in Luft und Licht, Himmel und Erde, Raum und Zeit, Land und Wasser, Menschen, Göttern, Tieren und Pflanzen in Form eines komplementären Prozesses aus Emanation und Kreation entfaltete.”

Dieser Punkt ist zentral für das Verständnis Altägyptens. Der Ursprung liegt für die Menschen des Pharaonenreichs nicht in ferner Vergangenheit, er wiederholt sich vielmehr jeden Tag mit dem Aufgang der Sonne. Alles was ist, ist mithin von der Sonne abhängig. Mehr noch: „Diese Abhängigkeit alles Seienden von der Sonne wird als Herrschaft verstanden, die die Sonne über alles Seiende ausübt, und zwar als politische, als Königsherrschaft. Die pharaonische Königsherrschaft ist nach altägyptischer Überzeugung so alt wie die Welt“, fasst Assmann zusammen. Und der Pharao ist der „Sohn der Sonne”.

In Rom: Moses © Fr. Barry Braum/unsplash.com

Die Bedeutung dieser allumfassenden Zuständigkeit zum einen und des tagtäglich gelebten Wiederkehrens des Ursprungsmythos zum anderen formt als große Erzählung das Bild, welches sich die Menschen Ägyptens von der Welt machen. Alles ist göttlich, die Sonne, die gesamte Natur, die Umwelt, mit der die Menschen sich konfrontiert sehen. Und: Sie sind nicht zu hinterfragen.

VEREHRUNG ALS HÖCHSTES ZIEL

Dieses Element ist keine Besonderheit der altägyptischen Zivilisation. Die Sumerer pflegen eine ähnliche Sichtweise. Der tschechische Wirtschaftswissenschaftler Tomas Sedlacek untersucht in seinem Buch „Die Ökonomie von Gut und Böse” die Geschichte unseres Wirtschaftssystems und geht dabei weit zurück. Bis in die Zeit der frühesten Mythen. Er beginnt seine Ausführungen anhand des sumerischen Gilgameschepos: „Die Geschichte hat kein Ziel, alles wiederholt sich mit kleinen Veränderungen zyklisch, wie wir es aus der Natur kennen [...] Die Natur war nicht entdeifiziert; daher war es unvorstellbar, sie zu erforschen, geschweige denn, in sie einzugreifen (sofern man nicht zu zwei Dritteln Gott war, wie Gilgamesch). Es wäre viel zu gefährlich gewesen, das Terrain der höchst launischen Götter zu untersuchen.”

Dabei wären Ägypter wie Sumerer durchaus und mit Leichtigkeit in der Lage gewesen, wissenschaftliche Forschungen voranzutreiben. Ihre Kenntnisse in der Astronomie und damit in mathematischen Fragen, in Belangen der Architektur wie in jenen der Medizin sind unbestritten. Doch dienten etwa die Kenntnisse der Astronomie ausschließlich dazu, wiederkehrende Ereignisse exakt zu berechnen. Oder dazu, Tempelanlagen so genau auszurichten, dass die Verehrung der Gottheiten höchste Vollkommenheit erreichen konnte. Die Frage nach dem „Warum“ stellte sich einfach nicht. Unter Ramses II. erreicht Ägypten einen Gipfelpunkt wirtschaftlicher, kultureller und politischer Macht. Es dominiert die Welt des Mittelmeerraums und des Vorderen Orients, wie die USA die Welt nach 1989.

Dominanz aber ruft bisweilen heftige Gegenreaktionen hervor. Heute wie damals. Die Antithese zu Ägyptens Glanz, Gloria und Götterpomp ist der absolute Monotheismus des Volkes Israel. Ein Bruch mit dem altägyptischen Weltbild, wie er radikaler nicht sein kann. Radikaler noch als jener des Echnaton. Im Exodus des Alten Testaments wird nicht nur der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten beschrieben, sondern vor allem ein ganz anderes Bild der Gottheit vermittelt. Es gibt nur den einen Gott. Er hat weder Gesicht noch Gestalt. Er bietet den Menschen einen Bund an. „Gott stand nun in radikaler Außerweltlichkeit einer Welt gegenüber, die über keinerlei immanente Göttlichkeit mehr verfügte und die der Mensch gehalten war, sich untertan zu machen, damit er aufhörte, sie anzubeten”, so Assmann.

Im Buch Mose wird der Gott Israels als ein Gott der Befreiung positioniert. „der dich aus Ägypten und der Sklaverei befreit hat“. Und er ist ein Gott, der sich erweisen wird. Er ist ein Gott der Zukunft. Er befreit nicht nur das Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft, er befreit es von einer durch und durch göttlichen Umwelt. Er beendet die tagtägliche Rückkehr zum Ursprung. Von nun an gibt es eine Vergangenheit. Mehr noch, es gibt eine Zukunft.

„Das Zeitverständnis der Juden ist linear, für sie hat die Zeit einen Anfang und ein Ende. Sie glauben an den historischen Fortschritt, und zwar in dieser Welt“, hält Sedlacek fest. „Zu den Dingen, die die Menschheit den Verfassern des Alten Testaments verdankt, gehören die Idee und das Konzept des Fortschritts.” Und: die Entgöttlichung ihrer Helden so wie der Natur.

DIE NEUE IDEE DES FORTSCHRITTS

Damit stellt sich das Volk Israel in allen Belangen gegen die damals herrschende und alles überstrahlende Lehre. Es bricht gleichsam aus der Gefangenschaft des ewigen Kreislaufs aus, es zieht seine Identität aus dem klaren Gegensatz zum zivilisatorisch alles überstrahlenden Ägypten. Ob dahinter ein ehemaliger Aton-Priester steckt, der die Lehre des Echnaton weiterführt oder nicht, ob der Exodus so vonstatten gegangen ist, wie tradiert, oder ganz anders stattgefunden hat, wofür es durchaus Anhaltspunkte gibt, ist im Endeffekt einerlei.

Wichtig ist, dass eine Vorstellung formuliert wurde, die für unser heutiges Verständnis der Welt von elementarer Bedeutung ist. „Zur Idee des Fortschritts, die später die treibende Kraft bei der Erschaffung der Wissenschaft und die Hoffnung unserer Zivilisation generell wurde, kam es erst aufgrund eines linearen Geschichtsverständnisses“, fasst Sedlacek zusammen. Und fährt fort: „Unsere Zivilisation verdankt die Idee des Fortschritts also vor allem den Hebräern. Im Laufe der Geschichte erfuhr diese Idee allerdings große Veränderungen, und heute begreifen wir sie ganz anders.“

Ob der biblische Autor einst die Erforschung des Weltalls im Sinne hatte, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Die Geschichte der Raumfahrt bedarf wohl keiner Rückdatierung. Was aber als Kern dieser Erzählung Bestand hat, ist die Freiheit, die Welt zu untersuchen und erforschen. Ein Keim, der in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zu voller Blüte gelangt. Durchaus zum Missfallen der kirchlichen Autoritäten. (fksk, 2012, editiert 2022)

Am Mond: Fußspur der Astronauten © NASA

Modelle der Zukunft: Der Medici Effekt

Markus Hengstschläger und Niki Popper im Gespräch über Modelle der Zukunft und Vorbilder aus der Renaissance. Und darüber, welche Kompetenzen benötigt werden, das Wissen der Welt in Innovation zu übersetzen.

 

Sie wissen voneinander – aus Funk und Fernsehen. Kennengelernt hatten sie einander bisher noch nicht: Der Genetiker Markus Hengstschläger und der Simulationsforscher Niki Popper. Das ändert sich an einem Tag im Dezember 2021, als die beiden sich am Institut für Medizinische Genetik über Modelle der Zukunft unterhalten. Es treffen zwei Kapazitäten aufeinander. Die Simulationsmodelle Poppers sind essenziell für die Formulierung der österreichischen Corona-Strategie. Sie geben Auskunft darüber, was unter welchen Umständen zu erwarten ist. Man kann sagen, sie werfen einen Blick in die Zukunft. Der Genetiker und Institutsvorstand Hengstschläger leitete gemeinsam mit Hannes Androsch den Rat für Forschung und Technologieentwicklung, ist stellvertretender Vorsitzender der Bioethikkommission im Bundeskanzleramt und wissenschaftlicher Leiter des Thinktanks Academia Superior – Fragen der Zukunft sind gleichsam sein täglich Brot.

Die Stimmung ist gelöst. Beide Herren sind aufeinander gespannt und wollen sichtlich die Gelegenheit nutzen, sich über Themen, die über den Tag hinausgehen, auszutauschen. Das Du-Wort vereinbaren sie gleich zu Beginn des Gesprächs. Damit ist das geklärt. Dann geht es gleich einmal um Grundsätzliches: Was braucht es an Wissen und Information, um in einer zunehmend komplexen Welt den Überblick zu behalten? Um dann die Zukunft zu gestalten?

Hengstschläger: Hier ist es einerseits wichtig, implizites und explizites Wissen zu unterscheiden. Außerdem gilt es zu unterscheiden: Das Wissen, welches uns weltweit zur Verfügung steht und das Wissen, das die und der Einzelne im Kopf hat. Die Tatsache, dass wir durch die digitale Transformation Zugang zu Informationen, Daten und Wissen haben wie noch nie, ist ein enormer Vorteil. Das aber bedeutet, dass man jede Menge Kompetenzen ­– wie Mut, Kreativität, Resilienz, soziale Kompetenzen, Entscheidungsfähigkeit – benötigt, die es ermöglichen, dieses Wissen zu nutzen, neue Anwendungen zu entwickeln, Kreativität und Innovation zu leben.

Popper: Der Unterschied zwischen Daten und Wissen ist ein wichtiger Punkt. Warum? Daten sind das eine, die Zusammenhänge der Welt zu verstehen, ist das andere. Mir ging es nie um das Goldgräbertum mit Daten, ich habe immer gesagt, ich will das verstehen. Das ist der Punkt. Mit unseren Modellen wollen wir meistens die Frage nach dem Warum beantworten. Der Bau von Modellen ist eine Kompetenz. Man muss modellieren können, wissen, was Mikro- und was Makrosimulation ist, was ist AI und was Re-enforcement Learning und tausend andere Dinge. Das muss man als Handwerk, als gerichtetes Wissen, beherrschen. Zusätzlich muss man die Kompetenz und die Kreativität haben, zu sagen, wie modelliere ich eine Großstadt wie Wien? Hier entsteht ein Wissensaustausch.

 

Der Anfang ist vielversprechend. Über die Grundbegriffe Wissen und Kompetenz herrscht Einigkeit. Wenn der eine spricht, ist der andere ganz Ohr. Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass diese Unterhaltung auch ganz grundsätzliche Fragen berühren wird, zum Beispiel die, wie Menschen Kompetenzen vermittelt werden.

Hengstschläger: Wenn wir in Richtung Modelle der Zukunft schauen, dann ist die Frage, was fangen wir mit dem Wissen, das zur Verfügung steht, an? Das Morgen wird anders sein als das Heute. Daher müssen wir permanent unser Wissen so anwenden, dass wir für Fragen, mit denen wir noch nie konfrontiert waren, Lösungen finden. Für diese völlig neuen Probleme und Themen reicht das vorhandene Wissen allein nicht aus. Also müssen wir es mit unseren Kompetenzen neu kombinieren und ständig erweitern. Das ist, was ich gerne „Lösungsbegabung“ nenne.

Der Mensch ist das lösungsbegabteste Wesen auf diesem Planeten. Weil er in der Lage ist, sein Wissen auf Dinge anzuwenden, wie es noch nie zuvor angewandt worden ist. Dafür braucht er neben Kreativität auch etwa Fleiß, kritisches Denken, Teamfähigkeit und einen hohen emotionalen IQ.

 

Jetzt ist Hengstschläger in seinem Element. Zehn Jahre im Rat für Forschung und Technologieentwicklung sind zehn Jahre Evaluierung des Bildungssystems und der Innovationsfähigkeit Österreichs. Und es sind zehn Jahresberichte zu diesen Themen, an denen er mitgearbeitet hat.

 

Hengstschläger: Unser Bildungssystem müsste viel mehr auf die Entwicklung von Talenten, Begabungen und Kompetenzen im Sinne von „was mache ich damit?“ fokussieren. Die nächste Generation soll sagen können: „Das mache ich damit, das wende ich an, da sind wir innovativ“. Österreich ist eines der reichsten Länder der Welt. Aber wir sind immer noch kein Innovationleader. Wir sind ein Innovationfollower. Wir haben bei Patenten, Ideen und Neuentwicklungen die Nase nicht vorn. Wenn sich Gesellschaft oder Unternehmen nicht um diese ungerichteten Kompetenzen kümmern, dann haben sie für die Herausforderungen der Zukunft nicht die richtigen Antworten.

Aus Zahlen, aus Null und Eins, aus ATGC, aus Daten wird dann Information, wenn ich zumindest ein, zwei Relationen herstellen kann. Zum Beispiel, dass das eine ein Geburtsdatum ist und das andere ein genetischer Code. Dann habe ich eine Information. Wissen ist die Ebene, wo ich sage, jetzt kann ich das im Kontext mit vielen anderen Dingen zusammenführen, und etwa eine neue Therapie entwickeln. Das ist Kontextwissen.

Das ist, was wir mit dieser Information machen können: Kontext! Der Mensch ist in der Lage zu sagen, „Wenn ich dieses kombiniere und jenes verändere, dann ergibt sich etwas Neues“. Und auf einmal fliegen Flugzeuge durch die Luft. Oder wir haben einen RNA-Impfstoff. So funktioniert Innovation! Wir müssen viel mehr Fokus darauf legen, zu sagen „Wie kriegen wir diese Lösungswege hin?“. Das wird bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der nächsten Generation den Unterschied ausmachen.

 

Während Hengstschläger spricht, nickt Popper immer wieder zustimmend. Verknüpfungen und Verbindungen herzustellen, das ist, was er macht. In großem Stil.

 

Popper: Über den Kontext wird tatsächlich viel zu wenig diskutiert. Mir geht es um Modellierungskonzepte und darum, zu verstehen, wie ich die Welt unterschiedlich beschreiben kann. Denn es geht ja um die Welt da draußen und um Modelle der Zukunft. Wir beschäftigen uns immer mit sehr komplizierten, zusammengesetzten Systemen. Ich freue mich über jedes Problem, wo ich mich mit drei Leuten, mit unterschiedlichen Kompetenzen zusammensetzen kann und wir ein Modell erarbeiten. Ich erlebe immer wieder, dass Unternehmen seit Jahren mit einer Methode, sozusagen durch eine Brille, auf ein Problem starren und nicht weiterkommen. Man muss nur das Problem drehen, eine andere Brille aufsetzen und plötzlich hat man einen anderen Effekt. Dann erkennt man dynamische Effekte. Die Frage ist, wie bringen wir diese Kompetenzen neue Lösungen zu finden, zusammen.

Das Gespräch zwischen den beiden Herren nimmt den Charakter eines freundschaftlichen, aber hochambitionierten Ping-Pong-Spiels an. Beide liefern einander in rascher Reihenfolge Stichwörter, die Fragen noch eingehender zu erörtern. Dazu geht es auch einmal gut 500 Jahre in der Geschichte zurück.

 

Hengstschläger: Das bringt mich zum Silicon Valley der Vergangenheit, der Region zwischen Pisa und Florenz. Die florentinischen Renaissance wurde durch etwas beflügelt, was auch Niki Popper macht, und was man den Medici Effekt nennt. Die Medici investierten viel Geld, um Menschen, die normalerweise so nicht zusammengekommen wären, zusammenzubringen und Schnittflächen zu bilden. Der Medici Effekt ermöglichte, dass Wissen aus den unterschiedlichsten Bereich aufeinander traf, woraus neue Ideen und Lösungsansätze entstanden. Das ist, was Niki Popper macht, er hat Daten, er kombiniert sie, erzeugt Schnittflächen und das führt zu neuen Lösungen. Das sind die Modelle der Zukunft!

Popper: Das ist tatsächlich der Luxus, den ich habe. Ich rede in der Früh mit Archäologen, dann mit Dermatologen, am Nachmittag mit einem Logistiker und am Abend mit Kunsthistorikern. Das ist total spannend. Aber wir haben euch gegenüber einen großen Nachteil: Ihr Genetiker verändert die Welt. Wir bauen nur ein virtuelles Abbild des Systems. Das ist alles, was wir generieren. Und das ist eine große Limitierung. Dessen muss man sich bewusst sein, egal womit man sich beschäftigt ob mit der Rail Cargo Logistik der ÖBB oder dem Energy Transfer in Europa. Wir schaffen ein Abbild und helfen dabei den verschiedenen Interessenten, den Entscheidern, der Scientific Community, den betroffenen Menschen Wissen darüber zu vermitteln, wie das zusammenhängt. Aber wir ändern nichts.

 

Sind es nicht auch die Modelle, die Verhalten ändern können? Hat sich nicht gerade in der Pandemie – die hier zum ersten und letzten Mal kurz als Beispiel auftaucht – gezeigt, dass Simulationen zum Infektionsgeschehen dazu beigetragen haben, dass viele Menschen ihr Verhalten danach ausgerichtet haben? Dem stimmt Popper zu. Über diesen Weg, meint er, hätten er und sein Team sogar einen ziemlich massiven Impact.

 

Popper: Man muss sich bewusst sein, dass wir nicht die Welt ändern können. Im allerbesten Fall ändern wir das Verständnis über die Welt. Wir liefern ein Abbild des Status quo, über Szenarien, mögliche Zukünfte und die Möglichkeit, Mechanismen und Zusammenhänge besser zu verstehen. Dieser Blick kann dann beitragen, dass Menschen über ihr Verhalten nachdenken, unser Modell hinterfragen oder auch etwas ändern.

 

Die Forschung zur Genetik, meint Popper, verändert die Welt. Daraus entstehen neue Therapien, neue Ansätze, Krankheiten zu verstehen und behandeln zu können. Insofern gestalten die Genetiker die Zukunft aktiv. Nicht sie alleine, erklärt Hengstschläger und läutet damit die Abschlussrunde des Gesprächs ein.

 

Hengstschläger: Die Modelle der Zukunft entstehen immer neu. Ich sehe in meinem Fachbereich, dass wir mit dem Repertoire, das wir ursprünglich hatten, heute nur mehr bis zu einem gewissen Punkt kommen. Dann brauchen wir ein anderes Repertoire. Wir haben am Institut jetzt Leute, die sich intensivst mit Themen beschäftigen, die so in der Grundausbildung von Genetikern nicht enthalten waren. Modelle und anwendbare Lösungsansätze sind nur in den Schnittflächen von Teams möglich. Wir brauchen technologisches Wissen, wir brauchen Faktenwissen und wir brauchen Empathie, damit sich diese Teams aus Menschen unterschiedlicher Hintergründe, Ansichten, Einstellungen und Kompetenzen bilden und gemeinsam an der Lösung eines Problem arbeiten können. Das ist eine ganz zentrale Komponente der Modelle der Zukunft.

Popper: Diesen Ansatz teile ich absolut. Es kommt darauf an, Wissen zusammenzubringen, zusammenzuarbeiten. Ich finde das Wort Empathie in diesem Zusammenhang sehr schön. Du kannst nicht mehr mit einer Kompetenz, mit einem, mit zwei Mitarbeitern Probleme lösen. Die Modelle der Zukunft sind hochkomplexe Angelegenheiten. Mit ihnen kann man Potentiale heben und die Menschen dahinführen, die Welt zu verstehen. Unsere Aufgabe ist, zu verhindern, dass sie abheben, virtuell und abstrakt werden. Wir müssen darauf achten, dass sie verständlich bleiben.

Hengstschläger: Das ist es. Wir müssen in der Lage sein, Leute zusammenzubringen, Teams zu bilden, und zwar ganz flexibel. Für dieses eine Problem brauche ich jetzt im Moment das richtig zusammengestellte Team. Dann geht es wieder auseinander. So hat man unzählige dieser Medici Effekte. Ich glaube, anders geht es gar nicht mehr. Man muss in der Lage sein, diese unglaublichen Angebote an gerichteten Wissen, die es auf dem Planeten gibt, auch wirklich kreativ und innovativ einzusetzen.


Dieses Gespräch wurde erstmals in „&beyond“, dem Magazin zum Geschäftsbericht 2021 der PALFINGER AG, veröffentlicht.
Photos: Thomas Topf,
thomastopf.com

Peter Beard – Ein Leben

Ich ging nach Tsavo zurück. Ich fotografierte Veruschka – für das englische Magazin Queen – in ihrem Schlangenledertrikot aus Blow-Up, dabei stand sie im Stumpf eines Baobabbaums, den verhungernde Elefanten völlig ausgefressen hatten.“ – „Schöne Frauen vor dem Hintergrund Afrika zu fotografieren und ,schöne‘ Bestien als Requisiten zu verwenden, meinst du nicht, das könnte man auch billig nennen?“ – „Das kriege ich ständig zu hören.“ – „Und was antwortest du darauf?“ – „Es bringt mich zum Stöhnen. Ich stöhne einfach nur laut auf. Ich glaube, dass ich als inzwischen ziemlich kultivierter Parasit auf diesem Gebiet beides tun kann – extreme Schönheit ist nun mal extreme Schönheit. Veruschka war eine meiner liebsten lebenden Skulpturen und ganz nebenbei bemerkt: ein Meisterwerk in ihren Maßen und ihrer Schönheit.“ So Peter Beard im Gespräch mit dem Schriftsteller und Herausgeber Steven M.L. Aronson. Nachzulesen in der vom TASCHEN Verlag dieser Tage publizierten Neuauflage von „Peter Beard“.

Veruschka © Peter Beard

Veruschka © Peter Beard

Dieser Peter H. Beard hat das Bild Afrikas zumindest in der westlichen Welt geprägt, mehr und nachhaltiger als es Forschungsreisende, Kolonialisten und Großwildjäger, Künstler und Schriftsteller vor ihm vermochten. Denn er war alles das, in unterschiedlichen Schattierungen. Vor allem war er ein großer Liebender, dem Kontinent verfallen und ein Zeitzeuge des Wandels von der kolonialen in die postkoloniale Epoche. Davon legte er Zeugnis ab. In Wort und Schrift und in aller Vehemenz durch seine Bilder, als Photograph.

Dabei war Beard nicht nur Chronist einer Zeitenwende, die er dokumentierte und kommentierte, er hat sie, in Maßen, mitgestaltet. Und auf diese Weise en passant Afrika interpretiert. Eine Interpretation, die, wenigstens in Europa und den USA, nach wie vor Geltung hat.

Peter H. Beard also, Spross einer wohlhabenden, einer reichen amerikanischen Familie. Ostküstenaristokratie aus altem Geld. Man darf ihn sich als jungen Mann sportlich vorstellen, von blendendem Aussehen, eloquent, in vielem begabt und mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein ausgestattet. Geradezu prädestiniert für ein Leben im Jet Set der sechziger Jahre.

Dann passiert ihm Afrika. Ostafrika, um etwas genauer zu sein. Tsavo, um präzise zu sein.

Ein Ort, an sich schon von grandioser Schönheit, regelrecht aufgeladen mit Legenden und Mythen auf Basis wahrer Begebenheiten.  In Tsavo war es, wo J.H. Patterson den Geist und die Dunkelheit, die beiden menschenfressenden Löwen, erlegte. Ein Kampf auf Leben und Tod. Antik in seiner Anmutung. Legendär bis heute. Karen Blixen war hier, so wie Denys Finch-Hatton, all die legendären Gestalten des kolonialen Britisch Ostafrika, verewigt in „Out of Africa“. Ein Brennpunkt Afrikas, geschichtenmächtig und wild und schön.

1955, gerade 17 Jahre alt, gelangt Peter Beard das erste Mal nach Kenya, wo er die letzten der Großwildjäger kennen lernt und mit ihnen auf Jagd geht. Von da an lässt ihn Afrika nicht mehr los. Er kehrt in die USA zurück, er studiert, er reist wieder nach Kenya, er reist nach Dänemark und lernt Karen Blixen kennen, die er an Finch-Hatton erinnert. Ein Türöffner. 1963 erscheint sein erstes Buch, „The End of the Game“. Ein Klassiker.

Ein Abgesang auf eine Welt, die verschwindet. Das wilde Afrika und seine Tiere. Beard hält alles fest, in dynamischen Bildern, romantisch zum einen, schonungslos ehrlich zum anderen. Seine Fotostrecke ausgebleichter Elefantenknochen und Skelette konterkariert die Eleganz der untergegangenen Epoche, ist ein Aufschrei, Flora und Fauna des Kontinents zu retten. Und in all dem doch zu allererst ein Kunstwerk.

Elephant in Front of Kilimanjaro © Peter Berad

Elephant in Front of Kilimanjaro © Peter Berad

Afrika, Ostafrika, Kenya wird ihm zum Material, aus dem er schöpft. Unermüdlich. Er bearbeitet seine Bilder und Tagebuchseiten akribisch und mit bedingungsloser Hingabe, er schafft Collagen, inszeniert Welten von grandioser Spannung. Sehnsuchtsorte.

Es ist nun nicht so, dass Beard einem kreativen Eremiten gleich im afrikanischen Busch gelebt hätte um seine Bilder in großen Collagen einzufassen. Ganz im Gegenteil. Er verkehrt freundschaftlich mit Salvador Dali, Pablo Picasso, Jackie Kennedy, Andy Warhol, Francis Bacon, Truman Capote und den Stones. Er fotografiert für die Vogue, spielt in Filmen mit, dreht Filme, reist nach Frankreich, Griechenland, ist in den Clubs von New York City ebenso zu Hause wie auf Ausstellungen und sichert sich in Montauk, im Staat New York, ein dramatisch gelegenes Stück Land mit Klippen, gegen die der Atlantik brandet, mit einem Blick, der sich in die Unendlichkeit weitet.

Vor allem aber sichert er sich sein ganz persönliches Stück Afrika, seine Bühne. „Ich kaufte 18 Hektar Wildnis – mit rein gar nichts drauf – gegenüber von den Ngong Hills und Karen Blixens alter Kaffeeplantage […]  Hog Ranch war die größte Show der Welt – dort gab es alles zu sehen, von Warzenschweinen und Schirrantilopen bis hin zu Giraffen und Löwen.“ Von hier aus sammelt er unermüdlich weiter, Bilder, Eindrücke, Menschen und vereint sie in seinen Tagebüchern und Collagen. Und, er verschreibt sich der „Preservation“ der afrikanischen Wildnis, die er eben nicht konserviert sehen will, sondern bewahrt und also gemanagt, so dass sie im Angesicht sich immer schneller ändernder Bedingungen bestehen kann. So wird er zu einem Advokaten des Cullings, des gezielten Abschusses von Tieren, um ihre Bestandsgrößen in einer verträglichen Relation zum verfügbaren Land zu halten. Ein Zugang, der heute in weiten Teilen Afrikas praktiziert wird (sehr zum Verdruss zahlreicher europäischer und amerikanischer Naturschützer).

Reflections on Natural History, Lake Rudolf © Peter Beard

Reflections on Natural History, Lake Rudolf © Peter Beard

So modern Beard in dieser Frage agiert, so romantisch gerät ihm sein Afrikabild. Er zelebriert vorzugsweise in Schwarz-Weiß und einer Unzahl feinster Grautöne, wieder und wieder vermischt  mit seinem Blut, eine Welt, die so nicht mehr ist, die so nie war und eben aus diesem Grund umso wirkmächtiger ist, als Leinwand, auf die Wünsche projiziert werden.

Aronson spricht in dieser Hinsicht einen gewichtigen Punkt an, den Beard unumwunden ehrlich beantwortet. Es geht ihm, es ging ihm, zeitlebens um extreme Schönheit. Was immer er dokumentiert, ist letztendlich sein Blick, seine Wahrnehmung, sein Afrika. Wohl auch eine Sehnsucht, die Afrika bei vielen seiner Besucher auslöst. Der Sehnsucht nach einem Garten Eden, einer idealen Welt. Beard hatte das Privileg, sich diese Welt gestalten zu können. Allen Anfechtungen und Unglücksfällen, die er so intensiv wie sein Glück er- und durchlebt hat, zum Trotz. Er hat dieses Privileg bis zur Neige ausgekostet und sein Publikum daran teilhaben lassen. „Peter Beard“, das Buch, ist mithin ein Geschenk, ein Glücksfall und ein Vermächtnis.

Peter Beard ist im April verstorben. In Montauk, USA. Fern von Afrika. (fksk)

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Peter Beard

Peter Beard, Nejma Beard
TASCHEN Verlag, 2020

Hardcover, 25,8 x 37,4 cm, 700 Seiten
€ 100,–

Der Pferde kognitive Kompetenz

Der „Kluge Hans“ war eine Nummer. Eine große und erfolgreiche – im Varieté. Vor allem. Dort beantwortete das Pferd Rechenaufgaben, indem es mit den Hufen das Ergebnis klopfte. Während sein Besitzer und Trainer Wilhelm von Osten stolz war auf sein kluges Tier und für die Zurschaustellung Geld einnahm.

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Stimmt ja gar nicht, das Pferd kann nicht rechnen, wurde schließlich von gelehrter Seite im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften festgestellt. Es beobachte vielmehr seinen Lehrmeister, erkenne an ihm, an seiner Körpersprache, an seinen unbewussten Zeichen, wann es aufhören müsse zu klopfen. Mithin: Kein rechnendes Pferd, keine Sensation.

Das war vor über 100 Jahren. Seither haben andere Tiere die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, genauer gesagt ihre kognitiven Fähigkeiten. Hunde, Raben, Ratten, Schweine, Goffin-Kakadus, von Schimpansen, Bonobos, Orang-Utans und Gorillas gar nicht erst zu reden. Das Pferd indes, welches Homo sapiens so eng verbunden ist wie sonst nur der Hund und beinahe so lange, das Pferd verblieb im Schatten der wissenschaftlichen Betrachtung.

Bis jetzt binnen eines Jahres nur die kognitiven Fähigkeiten des Einhufers vor den Vorhang gebeten werden. Pferde können menschliche Gesichtsausdrücke lesen; Pferde können mittels Symbolen mit Menschen kommunizieren; Pferde können den Wissenstand ihrer Menschen einschätzen und aktiv um Hilfe bitten.

Die Kraft der Anekdote

Wissen wir, sagen Pferdemenschen. Wissen wir doch immer schon. Und dann beginnen sie zu erzählen, reihen Anekdote an Anekdote, die in Summe stets darauf hinaus laufen, dass ihre Vierbeiner klug sind. Mindestens. Wenn nicht sogar intelligent.

Nun ist das mit der Intelligenz so eine Sache. Homo sapiens misst sie, wertet sie, wertet sich selbst anhand ihrer schieren Existenz (und zweifelt bei Gelegenheit ihr Vorkommen bei seinen Mitmenschen an).

Ich denke, also bin ich. Dieses Diktum definiert den Menschen. Hat ihn definiert, denn was René Descartes so wortmächtig wie prägnant formulierte, wird in seinem Absolutheitsanspruch zusehends in Zweifel gezogen. Das Verhältnis zu den Tieren dieses Planeten hat es freilich maßgeblich geprägt. So wie der biblische Spruch, dass dem Menschen die Erde untertan sei.

Es haben diese Gewissheiten den Menschen auch einen Vorteil verschafft. Das Tier (so wie lange Zeit, und das nur nebenbei, auch Frauen und Kinder) verfügt über keine Intelligenz. Die ist dem Menschen (lange Zeit dem Mann) vorbehalten. Es ist eine Kreatur, der man Empathie entgegenbringen kann, von der man weiß, dass sie nichts weiß, dass sie trainiert werden kann, abgerichtet, eingesetzt. Dieser Zugang erleichtert vieles, er macht die Welt wunderbar einfach und simpel und Homo sapiens zur Krone der Schöpfung.

Wären da nicht diese Anekdoten. Nicht nur von klugen Pferden und Hunden, auch von erinnerungsstarken Elefanten, von trauernden Hunden, von gewitzten Papageien. Anekdoten, die Wissenschaftler und Forscher dazu bringen, sich doch mit ihren Mitlebewesen auseinanderzusetzen, die Anekdoten zu überprüfen.

Anekdoten seit Anbeginn der Partnerschaft

Anekdoten seit Anbeginn der Partnerschaft

Also wissen wir, und dieses Wissen basiert auf Fakten, auf wieder und wieder überprüften Experimenten, dass Hunde beispielsweise ihre Menschen verstehen, dass sie sogar – passiv – über einen gewissen Wortschatz verfügen, dessen Bedeutung sie einzuschätzen wissen. Wir wissen, dass Vögel wie Raben in der Lage sind, sich in andere Raben hineinzuversetzen, einzuschätzen, was die anderen sehen und daraus Schlüsse für das eigene Verhalten zu ziehen. Wir wissen inzwischen sogar, dass Goffin-Kakadus bereit sind, eine Nuss, die sie im Schnabel haben, gegen eine größere Nuss einzutauschen. Von wegen, lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.

Und jetzt das Pferd.

Gesichtserkennung

Im Februar 2016 publizieren Amy Victoria Smith Leanne Proops, Kate Grounds, Jennifer Wathan und Karen McComb ihre Studie „Functionally relevant responses to human facial expressions of emotions in the domestic horse (Equus caballus)“ in den Biology Letters der Royal Society. Die Wissenschaftlerinnen der University of Sussex weisen darin nach, dass Pferde menschliche Mimik gut einzuschätzen wissen.

In der Untersuchung wurden den Pferden Fotos ihnen unbekannter Männer aus einem Meter Entfernung gezeigt. Einmal wütende Männer. Das andere Mal freundliche Männer.

Beim Anblick grantiger Gesichter stieg die Herzfrequenz der Tiere schnell und deutlich an. Und – die Pferde bewegten ihren Kopf, um das Bild besser mit dem linken Auge betrachten zu können. Darin stimmen die Pferde mit anderen Arten wie Hunden überein, bei denen nachgewiesen wurde, dass sie negative Dinge eher mit dem linken Auge fokussieren.

Auf lächelnde Gesichter hingegen reagierten die Probanden kaum. Sie sind harmlos. Im Sinne des Wortes. Offenbar, so die Autorinnen, sei es für das Fluchttier wichtiger, Gefahren rechtzeitig zu erkennen.

Wer beobachtet hier wen?

Wer beobachtet hier wen?

Dass Pferde indes überhaupt in der Lage sind, eine menschliche Emotion an der Mimik zu ersehen, ist bemerkenswert, belegt ist dieses artenübergreifende Erkennen bisher nur noch beim Hund. Andererseits, und das geben auch die Forscherinnen zu bedenken, kommunizieren Pferde untereinander wesentlich über ihre Mimik. Sie sind darin geradezu Meister.

Konsequenzen ziehen

Im November 2016 publizieren die norwegischen Forscher Cecilie M. Meidel, Turid Buvik, Grete H. M. Jørgensen und Knut E. Bøe im Journal „Applied Animal Behavior Science“ ihre Studie „Horses can learn to use symbols to communicate their preferences“.

In anderen Jahren wäre das eine Sensation gewesen, Headline News, Gesprächsstoff an Stammtischen und für das Feuilleton. 2016 war in dieser Hinsicht etwas anders. Es dominierten die 140-Zeichen Nachrichten eines (erfolgreichen) US-Präsidentschaftskandidaten.

Zurück zu den Pferden. Die Wissenschaftler brachten ihren Probanden bei, mittels dreier verschiedener Symbole anzuzeigen, ob sie eine Decke haben wollten oder nicht. Binnen zweier Wochen waren die Tiere in der Lage, ihre Vorlieben klar mitzuteilen. War das Wetter warm, nutzten die eingedeckten Pferde das Symbol für „Decke ab“, während jene ohne Decke keine Änderung wollten. Bei kaltem oder kühlem Wetter hingegen verlangten die „nackten“ Pferde nach der Decke, während jene, die schon eine hatten, damit zufrieden waren. Das Forscherteam kommt in seiner Studie zu dem Schluss, dass die Pferde mithin die Konsequenzen ihrer Entscheidung erkennen können.

Weiß Konsequenzen einzuschätzen

Weiß Konsequenzen einzuschätzen

Bislang läuft die Kommunikation zwischen Mensch und Pferd eingleisig. Homo sapiens gibt verbal über Zeichen oder durch Körpereinwirkung Befehle, Equus caballus reagiert wie trainiert. Nun zeigt sich, dass das Pferd ebenfalls in der Lage ist, zielgerichtet und mit Hilfe von Symbolen seine Bedürfnisse, seine Wünsche zu äußern.

Hilfsersuchen

Ebenfalls im November publiziert ein Team um Monamie Ringhofer und Shinya Yamamoto von der Universität Kobe eine weitere Studie zur kognitiven Leistungsfähigkeit der Pferde: „Domestic horses send signals to humans when they face with an unsolvable task“ in der Zeitschrift „Animal Cognition“.

Dabei gingen die Forscher von einer Alltagssituation in Ställen und auf Koppeln aus. Sie platzierten Kübel mit Karotten außer Reich- aber in Sichtweite der Pferde. Und diese taten, was sie – anekdotenhaft tausendfach wahrgenommen und erzählt – tun: Sie näherten sich einem Menschen, stupsten ihn, suchten Blickkontakt. Sie wiesen ihn in aller gebotenen Dringlichkeit auf die Karotten hin.

Blickkontakt und freundliche Hinweise

Blickkontakt und freundliche Hinweise

Damit nicht genug. Die Pferde erkannten auch, ob der Mensch, den sie um Beistand baten, wusste, wo die Karotten sind oder nicht. In letzterem Fall agierten sie mit ihren Hinweisen deutlich intensiver als in Ersterem. Kurz, sie wussten den Kenntnisstand des Menschen richtig einzuschätzen.

Eine Leistung, die bei Menschenaffen wiederholt festgestellt wurde. Bei Pferden bisher noch nicht.

Übereinstimmend kommen die Forschergruppen zu dem Schluss, dass die kognitiven Leistungen der Pferde zum einen auf ihrer hochentwickelten sozialen Struktur beruhen. Als Herdentiere, deren Überleben vom Zusammenhalt innerhalb der Gruppe und also von Kooperation abhängt, müssen sie in der Lage sein, ihre Kompagnons richtig einzuschätzen. Als enger Begleiter des Menschen haben sie zudem, wie die Hunde, im Laufe der Jahrtausende Wissen über ihre menschlichen Partner erworben, welches gleichsam a prirori abrufbar ist. Sie haben sich auf uns eingestellt.

Und, auch darin besteht Einigkeit zwischen den Wissenschaftlern, es ist ein lohnendes Ziel, die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten der Pferde weiter und intensiver zu untersuchen und zu erforschen. Auf dass der „Dialog“ zwischen Mensch und Pferd erweitert und vertieft wird. Evidenzbasiert. Nicht nur anekdotenhaft. (fvk)

Verstehen, eine Chance

Verstehen, eine Chance

Post scriptum:

Wilhelm von Osten wollte ein Pferd, das rechnen kann. Dass es ihn und seine Köpersprache las, war ihm nicht genug. Von Osten starb 1909. Der „Kluge Hans“ ging an Karl Krall, der ein psychologisches Laboratorium mit elf Pferden, zwei Eseln, einem Pony und einem Elefanten eingerichtet hatte. 1912 veröffentlichte er sein Buch „Denkende Tiere“. 1916 wurden der „Kluge Hans“ und die anderen Pferde des Laboratoriums zum Kriegsdienst für „Gott, Kaiser und Vaterland“ eingezogen. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Man kann es sich vorstellen.

Denkmalsturz und Bildersturm

Ausgerechnet Kant. Ausgerechnet der große Mann der europäischen Aufklärung, der Weltenbürger aus Königsberg, war – ein Rassist (im Nebensatz gleichsam nur und in der Marginalie. Einerlei, das Verdikt ist gefällt). Und also einer, dessen Denkmäler und Statuen, so wie jene des Sklavenhändlers Edward Colston, des Großkolonialisten Cecil John Rhodes oder König Leopolds, gestürzt werden sollen. In einem Aufwaschen, in einer durch und durch emotionalen Reaktion, sollen alle jene Monumente geschliffen werden, die an Männer (und ja, es sind tatsächlich fast ausschließlich Männer) erinnern, die in welcher Schattierung und Tiefe ihres Denkens auch immer rassistisch waren. Das ist die Lage.

Weg mit den alten Zöpfen… © Donovan Reeves /unsplash.com

Weg mit den alten Zöpfen…
© Donovan Reeves /unsplash.com

Es hat so ein Denkmalsturm ja etwas Befreiendes.

Anno 1989, als die gigantischen Statuen der realsozialistischen Heroen in Osteuropa fielen. 1918, als in den ehemaligen Kronländern Kaiser und Doppeladler in Metall und Stein und Marmor verschwanden. Während der Französischen Revolution und lange schon zuvor im Zuge religiöser Neuerungen, Spaltungen und Übernahmen. Bilderstürme und Denkmalstürze sind den Menschen wohlvertraut. Als Prozess der schnellen Reinigung, als eines Überwindens der Vergangenheit, als Sieg über einstmals herrschende Fürsten, rivalisierende Ideologien und Religionen. Schon vor rund 3300 Jahren ließen die ägyptischen Priester den Namen des Pharao Echnaton aus allen, oder fast allen, Inschriften kratzen, wollten ihn und seinen Monotheismus ein für alle Mal vergessen machen. Auslöschen.

Es ist ihnen nicht gelungen.

Geschichte lässt sich nicht ausmerzen. Sie ist.

Sie ist die Basis von Gegenwart und Zukunft. Als solche kann, als solche muss sie in allen ihren Facetten betrachtet und gewusst werden. Um daraus Schlüsse zu ziehen, auch zu der Frage, wer an wen wie, weshalb und wo erinnert.

Wer steht wo weshalb? © Ricardo Gomez / unsplash.com

Wer steht wo weshalb?
© Ricardo Gomez / unsplash.com

Wenn, nur als Beispiel, in den Südstaaten der USA die Generäle und Vertreter der nun wirklich rassistischen Konföderation auf öffentlichen Plätzen geehrt werden, dann ist das zum einen eine Botschaft an die weiße Bevölkerung (und war auch als solche gedacht), dass den Sezessionisten ungeachtet aller Differenzen, aller Gräuel des Bürgerkriegs zum Trotz von weiß zu weiß ein ehrendes Andenken gesichert ist. Man kann sagen, das Denkmal dient als Friedensangebot des weißen Nordens an den weißen Süden. Eine versöhnende Geste, so wie sie Kaiser Franz Joseph als König von Ungarn in Szene setzte, indem er den Offizieren der Hónved – die 1848 für die Unabhängigkeit von Habsburg gekämpft hatten – eine staatliche Pension zusprach. Ein Akt, der eine dringend benötigte Stabilität des Status Quo garantierte.

Nun hatten alle weißen Südstaatenheroen zu Pferd und auf einem Sockel eine zweite nicht minder wichtige Botschaft an die schwarze Bevölkerung: Glaubt nur nicht, dass sich wirklich etwas geändert hat.

Das hatte vor 150 Jahren unumschränkt Gültigkeit, das traf vor 100 Jahren zu und auch noch vor 50 Jahren. Seither aber hat sich zu viel verändert, als dass diese Monumente und diese expliziten Botschaften noch Bestand haben könnten. Nicht so wie bisher. General Lee und Co haben ausgedient. Sie verkörpern nur noch hohlen Pathos und verzweifelt rückwärtsgerichtetes Sehnen. Ein amerikanisches Trauma.

Was zählt? © Ehimetalor Akhere Unuabona / unsplash.com

Was zählt?
© Ehimetalor Akhere Unuabona / unsplash.com

Und doch ist es keine rein US-amerikanische Debatte und Angelegenheit. Zu eng sind die Vereinigten Staaten und Europa miteinander verflochten, als dass die Auswirkungen östlich des Nordatlantiks geflissentlich ignoriert werden könnten. Der Sklavenhändler und Wohltäter seiner Heimatstadt Bristol, Edward Colston, wurde in Gestalt seiner Statue partout in den Hafen gekippt. Leopold I., König der Belgier und Herr über den Kongo, wurde wieder einmal und sicher nicht zum letzten Mal vom Sockel geholt.

Löschen lassen sich damit die Verbrechen, und in beiden Fällen handelt es sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Menschheit, explizit gegen Afrikaner, indes nicht. Der Sturz ist ein Ereignis des Augenblicks, verbunden mit wenigstens ein wenig Genugtuung. Spät, aber doch.

Tatsächlich geschehen ist damit nichts. Überwältigt ist der Rassismus noch lange nicht.

Exakt hier wird es interessant. Wie weit trägt der Rausch des Moments? Denn was ist nun mit Immanuel Kant? Was mit Winston Churchill? Der eine wirkmächtiger Philosoph der Aufklärung und des Rationalismus, der vom Weltbürger schrieb, der die zeitlose Forderung, man solle den Mut haben, sich seines Verstandes zu bedienen, formulierte. Der andere, jener Mann, der den Widerstand gegen und letztlich den Sieg über den Nazismus überhaupt erst ermöglichte. Nach heutigen Maßstäben auch sie Rassisten. Als solche Menschen ihrer Zeit.

Alle stürzen? Alle dem Vergessen anheimfallen lassen? Als Strafe und zur Sühne? Und dann ein weißes Blatt Papier aufgeschlagen, frei von Geschichte und Gedanken und ein neues Kapitel einer endlich besseren Welt geschrieben?

Was aber wäre die Welt ohne den Mut, sich seines Verstandes zu bedienen? Hat nicht allein diese Aufforderung mehr Gewicht als die wertende Klassifizierung der Menschheit nach Hautfarbe, die Kant auch vornahm, die indes in der Rezeption seines Werkes keine Rolle spielt (und tatsächlich weitgehend vergessen war)? Und was wäre Europa, hätte nicht der britische Kriegspremier 1940 unbeirrt der Nazityrannei die Stirn geboten? Wiegt das nicht mehr als sein, schon von Zeitgenossen als unsäglich empfundener, Rassismus?

Das ist die Crux. Menschen sind in ihrer Persönlichkeit viel komplexer als den Menschen lieb ist. Recht eigentlich will man ja den Ritter ohne Furcht und Tadel, den makellosen Menschen, der immer und ausnahmslos und unbedingt auf der Seite des Guten, Wahren und Schönen steht. Umso mehr, handelt es sich um Menschen, die eine wie auch immer wichtige und gewichtige Rolle in der Geschichte der Menschheit spielen, einerlei ob politisch, künstlerisch oder wissenschaftlich. Eine Zumutung.

Und wer sind die hier? © Rishi / unsplash.com

Und wer sind die hier?
© Rishi / unsplash.com

Gerade darin liegt ein potentiell tieferer Wert vieler Denkmäler, so sie nicht allein der schlichten Andacht dienen. Sie können in ihrer Umgebung, mithin im Kontext gelesen werden und zum Denken anregen. Insofern, als sie als Intervention im öffentlichen Raum wahrgenommen, sie als Möglichkeit zur Auseinandersetzung genutzt werden. Das gibt es bereits, das ist nichts Neues. Jetzt ist der Moment, einen Schritt weiter zu gehen. Nach dem Sturz ist vor der Auseinandersetzung – aber bitte nicht in Form schlichter Informationstafeln. Es darf mehr sein. (fksk)

Wir sind beeindruckt

Das ist provokant: Eine Seite 1 nur mit Text gefüllt. Mit einem Leitartikel und einer Meldung. Und sonst nichts. Kein grafisches Element, kein Aufmacherfoto, nicht einmal eine Karikatur, stattdessen geballte Information. In die Tiefe gehend, Standpunkte formulierend. So gibt sich die Neue Zürcher Zeitung jeden Samstag. Fast, als hätte sich seit 1780, ihrem Gründungsjahr, nichts Wesentliches verändert.

Dem ist natürlich nicht so. Ganz im Gegenteil. Allenthalben leiden gedruckte Zeitungen unter Leserschwund und digitalem Konkurrenzdruck. Schnell soll die Information verfügbar sein, im Wisch-und-weg-Modus sowie appetitlich portioniert. Konsumierbar im Vorübergehen. News to go, gewissermaßen.

© Julia Sabiniarz / unsplash.com

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Notabene gratis.

Kein Zeitungshaus, welches darunter nicht gelitten hätte oder immer noch leidet. Reihenweise verabschieden sich Titel aus unserem Alltag, manche leise und unauffällig. Andere wieder nach zahllosen Anläufen sich neu zu erfinden, als Internet auf Papier oder als auf Krawall gebürstetes Skandal- und Revolverblatt. In rauen Mengen freihand verteilt im öffentlichen Raum. Schnell überflogen, schnell vergessen. Ein hektisches Aufbäumen gegen das Unabwendbare, den Verlust der einstigen Position.

Print ist tot, formulierte vor Jahren wieder und immer wieder Terence Lennox, das grandios-bissige alter ego des Wiener Fotografenautors Manfred Klimek.

Und nun das: Die Tageszeitung lebt.

Gut, das ist ein wenig zu allgemein. Etwas zu positiv gestimmt. Formulieren wir es präziser. Die traditionsreichen Tageszeitungen leben wieder auf. Es sind die alten Damen, die sich ihrer Stärken besinnen, ihrer Krisen, die sie bereits durchlebt haben, ihrer Möglichkeiten. Die Neue Zürcher als unbeirrbar distanziertes Blatt, zum Beispiel. Wider die unentwegte Aufgeregtheit der Welt und stets alles im Blick.

Dazu eine Anekdote. Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fällt und weltweit Schlagzeilen nach sich zieht, da würdigt die NZZ das Ereignis lediglich mit einer kurzen Meldung auf Seite 1. Es sei absehbar gewesen, erklären die zuständigen Redakteure später, mithin für jeden versierten Beobachter alles andere als eine Überraschung. Und eben keine Schlagzeile wert. Das ist zeitungsgewordener Stoizismus. Daran hat sich nichts verändert.

© Kevin Grieve / unsplash.com

© Kevin Grieve / unsplash.com

Dem Guardian liegt die Ruhe hingegen gar nicht im Blut, so wenig wie seinem Publikum. 1821 in Manchester gründet, schlägt er sich verlässlich auf die Seite der werktätigen Massen, versteht sich in jeder Hinsicht als kritisches, linksliberales Blatt, durchaus als Plattform großer Kampagnen.

Er insistiert, untersucht, gräbt tief und fragt nach. Die NSA-Affäre, die Paradise-Papers, die Privatkorrespondenz von Prinz Charles ebenso wie die Verwerfungen innerhalb der Labour Party sind seine Themen. Und noch viel mehr. Er ist ein, er ist das streibare Kultur- und Debattenblatt, provokant und Pulitzerpreisgekrönt.

Das verleiht Glaubwürdigkeit, die wichtigste Währung im Verhältnis zu den Lesern. Für den Guardian geradezu überlebensnotwendig, denn seine Printausgabe wird nur 140.000-Mal verkauft und erreicht in Großbritannien gerade mal 780.000 Leser. Längst lebt das Blatt von seiner Onlinepräsenz, längst ist die digitale Ausgabe zu einem globalen Blatt geworden, zum Umsatzträger dank freiwilliger Spenden hunderttausender Leser. Und längst schon wurde die Printausgabe geschrumpft, aufs handlichere Tabloid-Format, bunt und dick und durchaus laut.

Das unbedingte Entweder-Oder, Print oder Digital, das gilt nicht mehr. Die Vorteile und Möglichkeiten des Publizierens online stehen außer Diskussion. Die gedruckte Tageszeitung wird mithin zu einer Haltungsfrage, ja, auch zu einem Statement gegenüber sich selbst und der Welt. Wer eine Zeitung zu Hand nimmt, wer sich auf das haptische und auch immer noch olfaktorische Erlebnis einlässt, wer zwischen den Seiten und in den Nachrichten versinkt, kommt in den Genuss einer höchst konzentrierten kognitiven Aufnahme. Es ist hinlänglich und wissenschaftlich fundiert erwiesen, dass was auf Papier gelesen besser verstanden und gemerkt wird. Die gedruckte Tageszeitung als Halt in der Welt, sie besser zu verstehen.

Daran arbeiten nicht weniger als 1.400 Redakteure und Redakteurinnen im von Renzo Piano gestalteten New York Times-Tower in Manhattan. Dazu gesellen sich noch rund 100 Männer und Frauen in der Meinungsredaktion, denn nichts trennt die 1851 gegründete NYT strikter als Meldung und Kommentar.

Und kaum eine andere Zeitung verlangt von ihren Lesern einen Kommentar von Seite 1 auf Seite 10, die Aufmachergeschichte auf Seite 3 im Blattinneren fertigzulesen, weshalb man beim Blättern schon einen Eindruck von all dem erhält, was einen noch in diesem Weltblatt erwartet.

Und ein Weltblatt ist sie, die New York Times. Eine Ikone. Rank und schlank und hochgewachsen in ihrem Format, nur eben etwas eigenwillig in der Leserführung, aber ein Genuss. Ein Blatt, mit dem man sich gerne auch nur schmücken wollte, sozusagen als Accessoire. Sie atmet auf eine ganz spezielle Art und Weise Eleganz und Weltläufigkeit, sie ist wie ein Versprechen darauf, dass alles sich klären wird. Weshalb sie eben kein harmloser Gegenstand der Mode ist, als vielmehr einer der demokratischen Debatte, des versierten Diskurses, der fundierten und überlegten Kritik, die nichts und niemanden ausnimmt. Und deren sprachliche Brillanz sich eben gerade auf den gedruckten Seiten so unwahrscheinlich eindrucksvoller ausnimmt als im digitalen Kleid (wiewohl die NYT längst schon die Potentiale digitalen Erzählens und Publizierens ausschöpft).

Es ist mit den gedruckten Exemplaren etwas Widersprüchliches. Nichts, so das Sprichwort, ist so alt wie die Tageszeitung von gestern. Das war vor 100 Jahren schon richtig, das hat in Zeiten von Radio und TV noch mehr an Geltung gewonnen, das stimmt in Zeiten digitaler Information noch viel mehr. Trotzalledem hält sich das Druckwerk hartnäckig und will und will nicht einfach weichen.

Aus gutem Grund. Jedes Zeitungsexemplar wird im öffentlichen Raum auch wahrgenommen. Das Kleinformat geradeso wie die, im Wortsinn, großen Blätter. Hier konkurrieren sie um Aufmerksamkeit, um Anerkennung und Debattenhoheit. Sie sind eine tagtägliche plakative Demonstration einer bestimmten Haltung gegenüber der Welt, nicht notwendigerweise politisch simpel auf links oder rechts gestrickt, als vielmehr in Hinblick darauf, wie differenziert das Zeitgeschehen wahrgenommen wird. Selbst wenn der Leser dann hinter dem Blatt zu verschwinden scheint.

© Andris Romanovskis / unsplash.com

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Ein erprobtes Sujet, nebenbei bemerkt. Ein Mensch, der hinter seiner Zeitung verschwindet, zuordenbar nur durch die Umgebung. Aber wichtig und zentral die Botschaft, dass dahinter, hinter dem Großformat und damit hinter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein kluger Kopf steckt. Was sonst?

Ausgerechnet die konservative, die große bürgerliche Zeitung Deutschlands hat sich früh schon als innovativ erwiesen. Ihr Feuilleton als Tummelplatz freier Geister und das ganze Blatt als Statement Frank Schirrmachers, der, als Craig Venter das menschliche Genom entziffert, die ganze lange Buchstabensuppe abdrucken lässt. Und damit ganz en passant verkündet, dass nun neue Zeiten anbrechen, Zeiten, in denen kein Stein auf dem anderen bleiben wird.

Wo die New York Times in die Höhe strebt, der Guardian Stellung bezieht und die NZZ sich in Äquidistanz übt, da geht die FAZ lustvoll in die volle Breite der aktuellen Debatten, wortgewaltig, stilerprobt und unverblümt.

Das alles geht auf Papier tatsächlich besser. Es hat mehr Gewicht. Es sorgt für ein Rauschen im Blätterwald, für das Knistern in der Auseinandersetzung, für ein sattes Flapp um ein Argument zu unterstreichen. Es ist schwarz auf weiß festgehalten, bereit, abgelegt zu werden, in Büchern zu verschwinden um nach Jahren vergilbt aber immer noch erhellend wiederaufzutauchen. Eine Rezension, gar von Marcel Reich-Ranicki, verliert nicht über die Jahre, sie gewinnt.

Sich neu zu definieren in Zeiten des Wandels, das ist der Wiener Zeitung geradezu in Fleisch und Blut übergegangen. 1703 gegründet, als Wiener Diarium, gilt sie als die älteste noch existierende Tageszeitung der Welt. Gleichzeitig ist sie das offizielle Organ der Republik Österreich, Ort aller Pflichtveröffentlichungen, geschmäht als Beamtenblatt, als dröge, fade und entbehrlich. Tatsächlich steht sie unter Druck, sich ganz und gar frisch zu etablieren, wirtschaftlich solide – ohne die bisher garantierte Einnahmequelle. Sie tut es dezent, als sie, ganz wie die anderen großen alten Damen der Zeitungswelt, den Gedanken Raum gibt. Ruhig und gelassen, fundiert und ausgewogen, wie es von ihr erwartet wird. Ein Blatt, das über die Jahre zu einem Debattenblatt geworden ist, mit Hintergrund und Sachverstand. Online gerade einmal in Sparversion vorhanden, aber vielleicht auch gerade deswegen für Überraschungen gut.

Um noch einmal auf Terence Lennox zurückzukommen: Im April dieses Jahres meldete er sich auf Einladung der Redaktion via derstandard.at zu Wort und konstatierte eine Sehnsucht nach dem Analogen: „Denn das Analoge wird das Besondere sein, das Alleinstehende, das Singuläre, das die Person auszeichnet, die es im Gebrauch hat und diesen Gebrauch lebt. Print lebt also.“  Dem ist nichts hinzuzufügen. (FKSK)

 

Dieser Artikel erschien zuerst im Diners Club Magazin, Ausgabe 3/2019

Der Syphilis’ Folgen

Singen will ich heut und sagen,
wie einst durch des Schicksals Mächte
Jener Same ward gesäet
Einer Krankheit, die gar seltsam
Ferne Zeiten nie gesehen
Aber heute ganz Europa,
Asien, das ferne Libyen,
Hat durchwütet; wie die Seuche
Ihren Namen hat empfangen
Durch die Gallier, die damals
– Schreckenvollen Krieges Folge –
Latium damit beglückten.

Mit diesen Worten eröffnet Girolamo Fracastoro, Arzt und Humanist, den Gesang Syphilides sive morbi gallici libris tres, „Drei Bücher von der Syphilis oder der gallischen Krankheit“. Im Frühjahr 1494 zieht Frankreichs König Karl VIII. mit seinen Truppen nach Italien, um seine Erbansprüche auf Neapel durchzusetzen. Seinem Söldnerheer gehören ebenso wie jenem seines Gegners, des Königs Ferdinand von Neapel, Landsknechte aus Spanien an, dazu allerlei Kriegsvolk aus ganz Europa. Doch es sind die Spanier, die die Krankheit in sich tragen, die 1495 vor Neapel auf einmal ausbricht und sich innerhalb kürzester Zeit über ganz Europa verbreitet.

Albrecht Dürer: Darstellung eines Syphilitikers (1496)

Albrecht Dürer: Darstellung eines Syphilitikers (1496)

Es sollen die Matrosen des Christoph Columbus gewesen sein, die 1493 die Lues oder Syphilis von Westindien nach Spanien einschleppen, wo die Krankheit seither immer wieder aufflammt. Noch ist sie ein lokales Phänomen. Der Feldzug Karls VIII. trägt zu ihrer rasanten Verbreitung bei.

Nach dem Fall Neapels 1495 vereinen sich die beiden Heere und feiern gemeinsam ein achtzig Tage dauerndes Fest. Im Februar und März erkranken nicht nur Soldaten und Huren, es erkranken alle Bevölkerungsschichten, zuerst wird Neapel erfasst, dann, in rascher Folge, die anderen italienischen Städte.

Die Symptome der Lues sind seither mehr oder minder die gleichen geblieben. Im ersten Stadium tritt zwei bis drei Wochen nach der Infektion ein gerötetes Geschwür auf, das eine farblose Flüssigkeit absondert, damit gehen Schwellungen der umliegenden Lymphknoten einher. Beide Symptome aber klingen bald wieder ab und werden oft nicht als erste Warnzeichen erkannt.

Im zweiten Stadium, das ein bis zwei Monate oder auch erst ein bis zwei Jahre nach der Infektion eintritt, kommt es zu Hautausschlägen, bisweilen Haarausfall und Fieber. Auch diese Symptome verschwinden wieder, ohne dass sie behandelt werden.

Im dritten Stadium, das oft erst nach langer Latenzzeit ausbricht, kommt es zu dauerhaften Organschädigungen im Verbund mit Kreislauf- oder Knochenschäden. Begleitend dazu kann es infolge des rasch fortschreitenden Abbaus von Hirn- und Rückenmarkgewebe zu psychischen Veränderungen kommen.

Im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert geht der Krankheitsverlauf ungleich schneller vor sich, ist in seinen Auswirkungen dramatischer und drastischer. Eine florentinische Chronik berichtet über die „französische Krätze“, das sie „heftige Schmerzen verursacht, dauert acht bis zehn Monate, verbreitet sich im Laufe eines Jahres über den ganzen Körper nach Art einer schweren Krätze und unter einem pockenähnlichen Ausschlag, ist mit einem üblen Geruch der Verderbnis und Entstellung des davon ergriffenen Körpers verbunden“.

Dass sie eine schwere Allgemeinerkrankung ist, dass sie sich so schnell – entlang der Flussläufe mit einer Geschwindigkeit von 50 Kilometern pro Tag – über den gesamten Kontinent verbreitet, deutet darauf hin, dass es sich bei der Lues tatsächlich um eine neue Krankheit handelt.

So rasant sie sich ausbreitet und Europa in Angst und Schrecken versetzt, so viele Namen hat. In Deutschland, Spanien, Polen und Italien nennt man sie die „Französische Krankheit“, die Franzosen sprechen von der „Neapolitanischen Krankheit“, bei den Briten ist sie als „Französische“, bei den Schotten als die „Englische Krankheit“ bekannt. Die Russen bezeichnen sie als die „Polnische“ und die Türken als die „Christliche Krankheit“.

Ebenso wird sie nach ihrem Erscheinungsbild benannt, als Morbus pustulae oder als Pustulae obscoenae. Andere wieder geben ihr biblische Namen, orientieren sich an Hiob oder Rochus. Genauso wie mit Lues venera oder Lues aphrodisiaca auf die vermuteten Ursachen eingegangen wird.

Tizian: Girolamo Fracastoro (1477-1553)

Tizian: Girolamo Fracastoro (1477-1553)

Die Bezeichnung „Syphilis“ wird erst durch Girolamo Fracastoro geprägt, durch den Helden seines Liedes, den Hirten Syphilus. Als Dichter sieht Fracastoro den Ursprung gleichsam in einem Fluch der indigenen Völker Amerikas als Rache für die Freveltaten der Europäer.

Über das Warum der Seuche wird ebenso eifrig nachgedacht wie Namen ersonnen werden. Die Humoralpathologen sehen ein Übermaß an schwarzer Galle als Auslöser. Die astrologische Theorie der Alchemisten ist die am weitesten verbreitete; sie sieht in der nur alle 500 Jahre wiederkehrenden Konjunktion des Saturns und des Jupiters vom 25. November 1484 im Zeichen des Skorpions und im Haus des Mars ihren astralen Ursprung.

Die theologische Theorie wiederum hält sich bis in das 20. Jahrhundert und wird im Fall der Immunschwäche Aids wieder bemüht. Demnach ist die Syphilis eine Strafe Gottes für Verfehlungen der Menschen in ihrem Sexualleben. Umso mehr als sie – das wird alsbald erkannt – durch Geschlechtsverkehr übertragen wird.

Joseph Grünpeck: Das Christuskind straft die Menschheit mit Syphilis (1496)

Joseph Grünpeck: Das Christuskind straft die Menschheit mit Syphilis (1496)

Doch schon damals bleibt diese Theorie nicht unwidersprochen. Der Berliner Medizinhistoriker Rolf Winau zitiert in einem Artikel zur Geschichte der Syphilis die frühneuzeitlichen Kritiker folgendermaßen: „Einige beziehen die Ursache dieser Krankheit auf Gott, der diese Krankheit geschickt habe, da er will, dass die Menschen die Sünde der Unzucht vermeiden. Deswegen verband er mit dem Beischlaf solche Gefahren, dass manche diese Krankheit die ,Göttliche‘ genannt haben. Und warum, wenn Gott gegen die Unzucht losgefahren ist, warum ist er es nicht gegen die Wucherer, Wegelagerer, Räuber und Mörder, die doch viel grausigere Missetaten begehen als die, die den Beischlaf ausüben. Denn der Geschlechtsgenuss ist für jedermann eine natürliche Sache [...] Lasst uns als wie Hippokrates in seinem Buch über die heilige Krankheit sagen, dass diese Krankheit nicht heiliger sei als alle anderen.“

Es bleibt Girolamo Fracastoro überlassen, als Erster die Vorstellung, dass die Syphilis durch einen Krankheitserreger, einen Keim, übertragen wird, zu formulieren. In seiner 1546 erscheinenden Schrift De contagionibus et contagiosis morbis et eorum curatione libri tres, „Drei Bücher von den Kontagien, den ansteckenden Krankheiten und deren Behandlung“, überlegt er, pb nicht konkrete „Krankheitssamen“ für die Krankheit verantwortlich sein könnten. Vier verschiedene Wege der Übertragung skizziert Fracastoro, den direkten Kontakt, durch die Luft, die Tröpfcheninfektion und durch Gegenstände, die den Krankheitssamen tragen.

Doch alle Erklärungsversuche über Herkunft und Grund der Syphilis beantworten eine Frage nicht: Wie der Seuche Herr werden?

Wie keine Krankheit vor und nach ihr verändert sie die Sexualmoral Europas. Waren bis dahin Badehäuser und Badekultur hoch entwickelt, galten Amouren als akzeptabel, sogar der Besuch eines Freudenhauses als die natürlichste Sache der Welt, die vor aller Augen vonstatten gehen konnte, so ändert sich all das jetzt. Die Badekultur verschwindet (mit dramatischen Auswirkungen für die öffentliche Hygiene), die Sexualmoral wird rigide. Europa wird prüde. (fksk)

Die Konjunktur des Konjunktivs

In der Krise hat der Konjunktiv Konjunktur. Was man nicht alles hätte kommen sehen müssen, was nicht unternehmen, vorbereiten, planen, in die Wege leiten. Das ist ein Wesensmerkmal jeder krisenhaften Situation, denn nachher – und nachher meint hier schon den Moment unmittelbar nach Eintritt des Ereignisses – ist man klüger. Das gilt für die Coronakrise, das galt für die Finanzkrise 2008 und die nachfolgende Eurokrise, das hatte nach 9/11 Gültigkeit und nach den Naturkatastrophen der vergangenen Jahre.

Was man nicht alles hätte sehen können.© engin akyurt / unsplash.com

Was man nicht alles hätte sehen können.

© engin akyurt / unsplash.com

Tatsächlich ist eine Pandemie von Coronaausmaßen bereits durchgespielt worden. Mehrfach und immer wieder. Zuletzt wurde bekannt, dass in Deutschland zu Zeiten der CDU/CSU/FDP-Regierung und nach Sars, ein entsprechendes Planspiel durchdacht wurde. Ein Szenario, welches sich aus heutiger Warte geradezu prophetisch ausnimmt.

Beschrieben wurde ein Sars-Virus, expressis verbis ein Coronavirus, welches seinen Ursprung in Asien hat, das sich ausbreitet und nach kurzer Zeit auch in Europa, diesfalls in Deutschland, massive Auswirkungen hat. Festgestellt wurde, was es alles an Kapazitäten bräuchte, um so einem Virus Herr zu werden.

Man hätte es wissen können. Man hätte vorbereitet sein können.

Man war es nicht.

Umso lauter klingt das Klagen. Umso schmerzlicher wird die Verwundbarkeit empfunden, die wir dieser Tage und Wochen erfahren. Denn das neue Virus begnügt sich nicht damit, Menschen zu infizieren. Es infiziert gleich die gesamte Weltwirtschaft mit. Es erschüttert die Welt, wie wir sie kennen, in ihren Grundfesten.

Nichts ist mehr wie es eben noch war. Unsicherheit macht sich breit, Pläne werden über den Haufen geworfen, die Zukunft, wie immer man sie sich ausgemalt hat, sieht nochmals anderes aus und wie sie aussieht, das lässt sich noch nicht einmal wirklich sagen.

Da verspricht partout der Konjunktiv ein wenig Perspektive und Sicherheit, wenngleich nur retrospektiv. Also ärgert man und grämt sich, dass die vielen Möglichkeiten, die es doch gegeben hätte, nicht genutzt wurden. Dass man zu zögerlich war oder zu sparsam im System, zu nachgiebig oder was auch immer. Denn hätte man nur, dann stünde die Zukunft eben nicht zur Debatte. Oder wäre wenigstens nicht so radikal in Frage gestellt.

1940, nachdem die NS-Streitkräfte Kontinentaleuropa fest im Griff hatten und Großbritannien als letzter aktiver Gegner Nazi-Deutschlands allein auf weiter Flur stand, entfaltete die Losung „Keep calm and Carry on“ Wirksamkeit. Nicht der Konjunktiv vergebener Möglichkeiten gegen Hitler-Deutschland dominierte, sondern der unbedingte Wille, die Situation in den Griff zu bekommen, sie zu meistern und den Gegner zu besiegen.

Zugegeben, das Virus ist kein verbrecherisches Regime. Der Kampf gegen Corona ist kein Weltkrieg. Und ein Winston Churchill, der die Richtung vorgibt, ist weit und breit nicht auszumachen. Trotzdem hat gerade dieses „Keep calm and Carry on“ ungeheuren Charme. Es fokussiert auf die unmittelbar anliegenden Aufgaben. Es lässt keinen Raum, larmoyant Verfehlungen anzuprangern, die Schuld bei allen anderen zu suchen und sich selbst davon frei zu machen. Diese Bestandsaufnahme kann und wird erfolgen. Wenn alle Daten und Fakten auf dem Tisch liegen, wenn sich Maßnahmen und Mitteleinsatz evaluieren lassen.

Tatsache ist, dass sehenden Auges niemand die Gefahr sehen wollte. Das gereicht unserer Spezies und unserer Kultur nicht gerade zum Vorteil. Der rückblickende Konjunktiv macht die Lage nicht besser.

Wenn man sich wundert, was alles möglich ist.© Martin Sanchez / unsplash.com

Wenn man sich wundert, was alles möglich ist.

© Martin Sanchez / unsplash.com

Und doch ist er essentiell, so er vorausblickend, vorausschauend formuliert wird. Als Ergebnis vorwärts gerichteten Denkens und, ja, Antizipierens dessen, was alles möglich sein kann. Gerade in Österreich weiß man, dass man sich noch wundern wird, was alles möglich ist.

Es infiziert das Virus nicht nur Mensch und Wirtschaft, es greift die ohnedies bereits geschwächten Demokratien und ihre offenen Gesellschaften an. Nicht erst seit den Anschlagsserien religiös-fundamentalistischer Extremisten sind Ausnahmezustand und Einschränkungen der Grundrechte auch in etablierten Demokratien an der Tagesordnung. Mindestens ebenso lange laufen extremistische Parteien und Populisten Sturm gegen demokratische Institutionen und Rechtsgrundsätze.

In einer Welt, die sich schneller verändert als je zuvor, tun sie das durchaus mit Erfolg. Denn sie versprechen Sicherheit. Sicherheit auf allen Ebenen. Sicherheit in einer unsicheren Welt. Da darf das Recht dann schon einmal der Politik folgen, wenn es denn genehm ist. Grund- und Menschenrechten wird, aus Opportunitätsgründen, ihre universelle Geltung abgesprochen. Stammen sie doch aus einer anderen Zeit und sind also nicht mehr anwendbar, weil sie sperrig sind und unbequem, weil sie von der Gesellschaft Solidarität einfordern, wo diese Solidarität so wie auch die Prinzipien, auf denen sie beruht, als lästiger Ballast empfunden werden.

Nicht, dass wir uns wundern.© Dan Meyers / unsplash.com

Nicht, dass wir uns wundern.

© Dan Meyers / unsplash.com

Richter werden verhöhnt, als realitätsfremd und politisch voreingenommen. Gerichtshöfe nach Gutdünken besetzt, in bestehende Verträge wird eingegriffen – weil das Volk es so will. Oder wenigstens, jene, die sich als das Volk deklarieren, es so haben wollen. Spott und Herabwürdigung sind stete Begleiter dieser Entwicklung. Medien und Journalisten werden als willfährige oder aber berechnende Verlautbarungsorgane im Dienste der Unwahrheit geschmäht und der subkutane Antisemitismus platzt ein ums andere Mal auf.

Die tragenden Säulen der demokratischen Gesellschaften sind ins Wanken geraten. Oder wenigstens zu bröckeln haben sie begonnen.

Und jetzt die Seuche.

Die Angst und die Unsicherheit. Die Enttäuschung.

Und hast du nicht gesehen, steigt die Bereitschaft, auf andere, auf jene, die sich nicht so verhalten, wie man sich jetzt zu verhalten hat, die zu Mehreren spazieren gehen, die auffallen, die Widerworte äußern und mehr Hysterie verorten denn Gefahr für Leib und Leben, auf alle diese lauthals hinzuweisen. Und Strafe einzufordern.

Das ist der Moment, in dem der zukunftsgerichtete Konjunktiv, die Frage nach dem, was „alles möglich ist“, bedeutend wird und wichtig.

Nicht, dass wir uns nach der Krise und in einer anderen Normalität angelangt, wieder mit dem retrospektiven Konjunktiv behelfen müssen. Und eingestehen, dass wir hätten sehen können, hätten sehen müssen, welche Gefahr das Virus für eine offene und demokratische Gesellschaft darstellt. Dann ist es zu spät. (fksk)

Afrikanische Perspektiven

Es ist, aus europäischer Warte, eine klare Sache und Afrika ein taumelnder, ein stürzender, ein brandgefährlicher Kontinent. Tummelplatz maßloser Diktatoren, Schauplatz unzähliger archaischer und blutiger Konflikte, Ursprung einer alle Dimensionen sprengenden Migrationsbewegung. Vielleicht sogar, für manche sicher, das Ende Europas.

Es gibt, so viel Ausgewogenheit muss sein, auch noch eine zweite Variante europäischer Sichtweise auf Afrika. In dieser ist der Kontinent Heimstatt einer einzigartigen Flora und Fauna, die die Afrikaner nicht in der Lage sind zu bewahren, weswegen es europäischer Unterweisung bedarf.

Und, es wird die Klage laut, die Afrikaner verkauften sich, ach was verkaufen, sie würfen sich China bedenkenlos an die Brust, nähmen sehenden Auges (und gegen viel Bares) eine zweite Kolonisation in Kauf. Diesmal eben durch Fernost. Das schmerzt die Europäer, denn sie meinen es nur gut mit Afrika, dem verlorenen Kontinent. Wenn doch nur die Afrikaner endlich die guten Intentionen Europas verstünden.

Wenn doch nur die Afrikaner endlich die guten Intentionen Europas verstünden.  © Trevor Cole / Unsplash.com

Wenn doch nur die Afrikaner endlich die guten Intentionen Europas verstünden.
© Trevor Cole / Unsplash.com

Es ist das Verhältnis zwischen Europa und Afrika tatsächlich schwierig. Nicht nur der Vergangenheit wegen. Es ist schwierig, eben aus dem Grund, dass sich die Sicht des Nordens auf den Süden nur wenig geändert hat im Laufe der Jahrzehnte. Diese Perspektive besagt, dass den Afrikanern geholfen werden muss. In der wirtschaftlichen Entwicklung, im Aufbau von Strukturen und Infrastrukturen, in letztlich allen Belangen von Bedeutung. Diese Perspektive fokussiert beharrlich auf das Bild eines ruralen Afrika, auf staubige Hütten am Rande noch staubigerer Straßen, auf große, leidende Kinderaugen, auf Armut und Zukunftslosigkeit. Hier gilt es Brunnen zu bohren, Ziegen zu verschenken, kleine Werkstätten zu etablieren und zu unterrichten.

Ausgespart bleibt das Leben in Luanda, der angolanischen Hauptstadt, einer der teuersten Metropolen der Welt. Modern, pulsierend, im Aufbruch. Ausgespart bleiben Städte wie Nairobi (es sei denn, es geht um die Slums) oder Maputo, ausgespart bleiben Johannesburg (es sei denn, man braucht ein Beispiel zur Illustration von Kriminalität) und Durban.

Kommen in Europas Sicht nicht vor, die afrikanischen Metropolen. © Marlin Jackson / Unsplash.com

Kommen in Europas Sicht nicht vor, die afrikanischen Metropolen. © Marlin Jackson / Unsplash.com

Ausgespart bleiben die Errungenschaften vieler afrikanischen Gesellschaften und Staaten seit 1989. Denn, auch das wird von Europa aus kaum und nur sehr am Rande wahrgenommen, mit dem Ende des Kalten Krieges gehen die Stellvertreterkriege der Blöcke in Afrika zu Ende. Während in Europa Vaclav Havel als Symbol eines neues Zeitalters gefeiert wird und Bill Clinton dazu auf dem Saxophon die amerikanische Begleitmusik gibt, fallen in Afrika die Diktatoren. In Malawi wie in Sambia etablieren sich demokratische Regime, der Bürgerkrieg in Mosambik endet in einem vorerst fragilen Frieden so wie jener in Angola. In Tansania und in Kenia entwickeln sich demokratische Oppositionskräfte, Wahlen werden zu Wahlen. Machtwechsel demokratischer Natur finden statt.

Europa blickt unterdessen begeistert auf Südafrika und Nelson Mandela. Und entgeistert auf den Genozid in Ruanda. Später dann auf Simbabwe und seinen altersstarren Präsidenten Mugabe. Da werden dann doch wieder Stimmen laut in Europa, die fragen, ob der Kolonialismus denn in der Tat so schlecht gewesen wäre.

Mehr ist nicht. Wenigstens nicht viel mehr.

Entwicklungen, die Europa zu verschlafen droht. © Benny Jackson / Unsplash.com

Entwicklungen, die Europa zu verschlafen droht. © Benny Jackson / Unsplash.com

Dieser Tage hat der US-amerikanische Think Tank Brookings Institution ein paar Zahlen, Daten und Fakten zu Afrika zusammengefasst. Sie skizzieren eine Entwicklung in Afrika, die Europa schlichtweg zu verschlafen droht.

Seit 2015, so die Autoren des Beitrags, Landry Signé und Ameenah Gurib-Fakim, zählte Afrika mehr als 27 Machtwechsel durch demokratische Wahlen, Staaten wie Mauritius, Botswana, Kap Verde, Namibia und Ghana gelten als politisch stabile, demokratische Länder, andere wie Südafrika, Sambia, Malawi und Äthiopien als aufstrebende Demokratien.

Seit dem Jahr 2000 ist in 34 Staaten, in denen 72 Prozent aller Afrikaner leben, die verantwortungsbewusste Regierungsführung (Good Governance) substantiell gesteigert worden. Binnen der letzten zehn Jahre wurden Bereiche wie gesellschaftliche und politische Teilhabe sowie Rechtsstaatlichkeit deutlich verbessert, im Laufe der letzten fünf Jahre zudem Bereiche wie Transparenz und Verantwortlichkeit.

Es verändert sich etwas, und es verändert sich rasch. © Alex Paganelli / Unsplash.com

Es verändert sich etwas, und es verändert sich rasch. © Alex Paganelli / Unsplash.com

 Nein, damit ist bei weitem nicht alles gut. Der Bürgerkrieg im Kongo, die immer noch angespannte, um nicht zu sagen enttäuschende Situation in Simbabwe, die nach wie vor grassierende Korruption in vielen Ländern, die drohende Ausrottung von Nashörnern, Elefanten und Löwen durch organisierte Wilderei, das alles ist real und gegeben. Aber: Diese Themen treiben die afrikanischen Gesellschaften um. Tragen dazu bei, dass sich zivilgesellschaftlich Initiativen bilden, oftmals getragen von Frauen, die nach Verantwortung streben und sie wahrnehmen.

Und Verantwortung nehmen die afrikanischen Staaten tatsächlich wahr. Nirgendwo zählt man mehr Flüchtlinge als in Afrika, und doch streben sie nicht einfach alle nach Europa. Allein Uganda, Äthiopien und Kenia beherbergen rund 2,8 Millionen Flüchtlinge und versorgen sie, allen Mängeln zum Trotz.

In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass, trotzdem 2017 in Summe 18 Konflikte in und zwischen afrikanischen Ländern gezählt wurden, selbiges Jahr jenes mit den neuntwenigsten Opfern seit 1950 war.

Noch ein paar Fakten: Seit 1995 ist die chronische Mangelernährung von Kindern unter fünf Jahren um zehn Prozentpunkte zurückgegangen, hat der allgemeine Gesundheitszustand von Kindern zugenommen, steigen – trotz HIV und Malaria – dank verbesserter Behandlungen Lebenserwartung und die Aussicht auf ein qualitätsvolles Leben.

Es gibt sie, die guten Nachrichten aus Afrika. Man muss sie nur hören. © Paul Zoetmeijer / Unsplash.com

Es gibt sie, die guten Nachrichten aus Afrika. Man muss sie nur hören. © Paul Zoetmeijer / Unsplash.com

Parallel dazu steigt die Zahl jener Kinder, denen ein Schulbesuch möglich ist. Von 60 Millionen im Jahr 2000 auf 150 Millionen 2017. Die Alphabetisierungsrate unter Erwachsenen ist seit 1995 um zehn Prozentpunkte angestiegen, vor allem und in erster Linie unter Frauen.

Apropos, in elf afrikanischen Staaten halten Frauen mindestens ein Drittel aller Parlamentssitze – mehr als in Europa oder in den USA.

Das ist, zugegebenermaßen, eine Momentaufnahme. Freilich eine, die einen anderen Blickwinkel wenigstens ermöglichen sollte. Auf Afrika, als einen Kontinent der Hoffnung, der Möglichkeiten.

Konzentriert sich Europa weiterhin auf die „Bad News“ und auf das Szenario einer ungebremsten Migration zu seinen Lasten, verliert es notwendigerweise Zugang zu Afrika und die Potentiale einer zukunftszugewandten Partnerschaft. (FKSK)

Lulu – Tod eines Orcas

Ich habe sie gesehen, Lulu, eine der Orcas der – in Großbritannien, zumal in Schottland – legendären „West-Coast-Community“. Ich habe ihre Rückenfinne gesehen, ihren Rücken, ihren Körper, der wieder und wieder durch die Wellen vor der Isle of Skye gebrochen ist. Und ich war glücklich.

Orcas © Frank Busch / Unsplash.com

Orcas © Frank Busch / Unsplash.com

Auch weil ich wusste, dass es ein Privileg war, diese Tiere zu sehen. Im Frühherbst 2013 erklärte mir die Meeresbiologin Olivia Harries, dass die Reproduktionsrate der Herde zu gering sei, als dass das Überleben dieser Gruppe auf lange Sicht gesichert sei. Vor allem aber: Die Tiere seien allesamt hochgradig vergiftet. Die Forscher wüssten, dass die Orca extrem hohe Konzentrationen an PCB (Polychlorierte Biphenyle – einer hochtoxischen und krebserregenden organischen Chlorverbindung) in ihrem Blubber aufwiesen. Das sei bei toten Exemplaren nachgewiesen worden. „Sie sterben aus“, Olivia Harries machte keine großen Worte darum. Die Trauer darüber war dennoch spürbar.

Im Jänner 2017 wurde Lulu tot am Strand von Tiree aufgefunden. Sie hatte sich in Leinen von Lobsterkäfigen verfangen und nicht mehr befreien können. Trotzdem wurde eine Untersuchung angeordnet. Die Ergebnisse wurden dieser Tage öffentlich gemacht.

Demnach ist die 20 Jahre alte Lulu, der am „stärksten vergiftete Meeressäuger“, den britische Wissenschaftler je zu obduzieren hatten. Lulus Blubber wies 950 Milligramm PCB pro Kilo auf – der Grenzwert liegt bei neun Milligramm PCB pro Kilo. Ab diesem Wert kann es zu nachhaltigen Schädigungen der Tiere kommen.

Das erklärt möglichweise auch, weshalb Lulu trotz ihrer 20 Jahre nie ein Kalb geboren hat. Und es erklärt wohl auch, weshalb die „West-Coast-Community“ nicht mehr den Hauch einer Chance hat zu überleben.

Ich habe Lulu gesehen. Für kurze Zeit nur.

Lulu vor der Isle of Skye © Privat

Lulu vor der Isle of Skye © Privat

Der Herbst kam früh 2013, mit Windstärke 9 von Süd-Südwest fegte er schon Ende August durch die Inselwelt der Hebriden an der Westküste Schottlands. Er wühlte die See auf, brachte Regen mit sich und Kälte. Es ist dann nicht gerade einfach, an Deck der „Silurian“ vorne am Mast zu stehen und zwischen den Wogen, inmitten von Gischt und Brechern die Finnen von Schweinswalen auszumachen und zu melden. Oder die von Riesenhaien, von Tümmlern oder gar von Orcas. Doch gerade aus diesem Grund stehen zwei Expeditionsteilnehmer am Mast, gesichert durch eine Leine, und halten sich fest. Durchforsten die aufgewühlte See nach Sichtungen, die sie weitergeben.

Sie sind Freiwillige. Im zivilen Leben gehen sie in London, Chicago oder Cambridge ganz normalen Berufen nach. Sitzen in Büros, arbeiten in Spitälern, fallen nicht weiter auf. Jetzt finden sie sich, in Ölzeug gehüllt, mit warmen Handschuhen und Mützen ausstaffiert, auf See wieder. Als Teil eines großen Projekts.

Die Gewässer im Blick © Privat

Die Gewässer im Blick © Privat

Die Hebriden sind eine Welt für sich. Dank ihrer Inseln, der verschiedenen Meeresströmungen, die hier aufeinandertreffen, ihrer Abgelegenheit. Und dank ihrer Tierwelt. Zwischen der Isle of Mull und der Isle of Skye tummeln sich so viele Schweinswale wie kaum sonst wo in europäischen Gewässern. Heimisch sind auch Riesenhaie, Planktonfresser wie der Walhai, dem sie an Größe nur um Weniges nachstehen. Minkwale ziehen durch die nährstoffreichen Gewässer. Und Orca. Nicht irgendwelche, sondern eine eigene Gruppe. Die „West-Coast-Community“, neun Tiere, größer als alle anderen Orca dieser Welt, mit einer eigenen Zeichnung, sogar mit einer eigenen „Sprache“ – und eben wegen dieser unfähig mit anderen Artgenossen zu kommunizieren – und deswegen wohl dem Untergang geweiht. Tümmler und gemeine Delphine, Seehunde, Papageientaucher, Tölpel und Kormorane – die sind gleichsam die Zugabe.

Die Silurian vor Anker © Privat

Die Silurian vor Anker © Privat

Ein Idyll. Möchte man meinen. Doch die Hebriden sind zugleich eines der Zentren der schottischen Lachszucht mit riesigen Fischfarmen; in den Meeresarmen und Lochs reiht sich zudem Lobsterkäfig an Lobsterkäfig, und dann ist da noch die Royal Navy, die ausgerechnet hier Übungsgebiete eingerichtet hat. Für Manöver ihrer U-Boote, für das Testen von Torpedos. Kein einfaches Nebeneinander.

Aus diesem Grund ist die „Silurian“ im Auftrag des „Hebredian Whale and Dolphin Trusts“ unterwegs. Um Daten zu sammeln. Fundierte Aufzeichnungen über Sichtungen von Schweinswalen, Riesenhaien und Schwertwalen. Um ein Kataster über Fischfarmen und Lobsterkäfige anzulegen. Um hieb- und stichhaltige Argumente für ein Schutzgebiet zu sichern. Und das eben mit der Hilfe von Freiwilligen.

Der erste Tag an Bord der „Silurian“ dient der Eingewöhnung. Die Kojen sind eng, der Platz ist beschränkt, der Seegang ungewohnt, das Ölzeug noch nicht geliebt (das wird sich ändern, nichts hält Wind und Kälte so gut ab wie Ölzeug). Doch eigentlich interessiert nur, wie man die Meeressäuger und den Riesenhai erkennt. „An ihrer Finne“, erklärt Olivia. „An der Art, wie sie sich durch das Wasser bewegen. Schweinswale rollen durch die Wogen. Man sieht nur ihren Rücken. Delphine und Tümmler tauchen auf, ebenso Orca. Von den Riesenhaien werden wir nur die Rückenflossen sehen – falls wir sie sehen.“

Lulu vor der Isle of Skye © Privat

Lulu vor der Isle of Skye © Privat

Dieser Vorbehalt ist wichtig. Eine Expedition, eine Forschungsfahrt ist kein „Whalewatching-Trip“. Es geht darum, zu dokumentieren. Den Tieren wird mit Respekt – und Abstand – begegnet. Nicht das Erleben an sich steht im Vordergrund, sondern die Arbeit.

In den kommenden Tagen werden die Menschen an Bord noch etwas erkennen. Diese Fahrt ist auch eine Exkursion an die eigenen Grenzen. Privatsphäre gibt es nicht. Es gilt, sich zu arrangieren. Das Leben an Bord funktioniert nur, wenn alle zusammenhalten, untereinander loyal sind. Der tägliche Dienstplan ist auf Punkt und Strich einzuhalten. Eines muss präzise in das andere übergreifen. Ausnahmslos.

„Sighting! Bearing 90 degrees. Distance 100 metres. Heading 30 degrees“, zu Deutsch: „Sichtung! Höhe 90 Grad, Entfernung 100 Meter, Kurs 30 Grad“, solcherart melden sich die Beobachter am Mast. Und nennen noch das Tier. Zumeist den Schweinswal.

Doch am zweiten Tag, als die „Silurian“ Kurs auf die Isle of Skye nimmt, sind es keine Schweinswale, die da auftauchen. Es sind – Schwertwale. Drei Tiere der West-Coast-Community. Aquarius, Comet und Lulu.

Hektik. Aufregung. Alles stürmt an Bord. Der Computer ist verwaist. Die Disziplin geht flöten. Kameras klicken. Nur Skipper James bewahrt Ruhe, ändert den Kurs, folgt nun den drei Schwertwalen. Ihren Rückenfinnen, die wie gewaltige Aufbauten ein ums andere Mal aus dem Wasser auftauchen. Niemand ruft, keiner sagt etwas. Alle schauen nur. Beobachten. Und Olivia strahlt vor Glück.

Es ist die erste Sichtung in diesem Jahr.

Die „Silurian“ begleitet die drei gut eine Stunde, dann dreht sie ab und geht zurück auf den ursprünglichen Kurs. Die Routine greift wieder. Jeder nimmt seinen Platz ein. Die Beobachter am Mast melden anstelle von Walen oder Delphinen nun auch wieder die Lage der Lobsterkäfige – erkenntlich an ihren Bojen.

Comet und Aquarius © Privat

Comet und Aquarius © Privat

Ein paar Monate zuvor machte sich John Coe, ein weiteres Mitglied der West-Coast-Community auf den Weg an die schottische Ostküste. Prompt wurde die Einzigartigkeit der kleinen Gruppe in Frage gestellt. Für Olivia Harries ist das eine ärgerliche Debatte. Wird die Besonderheit der Hebriden in Frage gestellt, dann auch das Projekt eines Schutzgebietes.

„Es ist einfach so, dass wir über Meeressäuger noch immer so gut wie nichts wissen“, erklärt sie am Abend. „Nehmen wir die Minkwale. Ursprünglich ist man davon ausgegangen, dass sie immer wieder zu denselben Gebieten zurückkehren. Inzwischen vermuten wir aber, dass sie rund um den Globus wandern. Ein Minkwal, der vor der Isle of Skye gesichtet wird, kann ein paar Monate später vor den Kanaren auftauchen und wieder ein paar Jahre später im Pazifik. Wir wissen im Grunde nichts über sie. Wir wissen nur, dass die Hebriden eines ihrer bevorzugten Gebiete sind.“

Eines mit Fallstricken. Im wahrsten Sinn des Wortes. Die Lobsterkäfige sind über Seile mit Bojen verbunden. Verfangen Minkwale sich nun in diesen Seilen, beginnen sie sich um die eigene Achse zu drehen. Bis sie verschnürt und bewegungsunfähig sind. „Wir hatten einen Fall, bei dem ein Minkwal so eingeschnürt auf dem Rücken zu liegen kam“, erinnert sich Olivia. Das Atemloch war unter Wasser ...

Das ist auch nicht im Sinne der Lobsterfischer. „Unser Verhältnis zu ihnen ist sehr gut“, so die Meeresbiologin. „Wir geben ihnen Tipps, wie sie derartige Unfälle verhindern können. Wir beraten auch die Fischfarmen, wenn es um den Schutz ihrer Lachse geht. Seehunde lieben Lachse und brechen die Käfige mit Leichtigkeit auf.“ Nein, die Farmer und Fischer sind keine Gegner. Sie wissen um den Wert der Tierwelt.

Problematischer ist da die Sache mit dem Lärm. Mit dem Sonar der U-Boote, der Detonation der Torpedos. Ein Höllenlärm in den Ohren der Meeressäuger. Dazu kommen noch das Stampfen und Schrauben der Fähren und Frachter, die Motoren der Fischtrawler, akustische Abwehrsignale der Fischfarmen – unter Wasser herrscht alles andere als Ruhe. Auch das sollte sich bessern. Wenn erst das Schutzgebiet seine Wirkung entfaltet.

Hebridenidyll © Privat

Hebridenidyll © Privat

An Bord wird es einstweilen immer rauer. Der Wind frischt auf. Die monotone Stimme des BBC-Shipping-Weather verkündet für den Inneren Sund „South-southwesterly wind, galeforce 9 becoming 10, drizzle becoming rain, poor visibility“. Die britischen Teilnehmer meinen, dass sie das ansonsten am Sonntag in der Früh hören, sich dann noch einmal umdrehen und denken, wie gut es ist, dass sie nicht selbst da draußen auf See sind. Jetzt aber sind sie auf See.

Am Loch Gairloch erreicht die „Silurian“ den nördlichsten Punkt der Reise. Von der Querung zu den Äußeren Hebriden sehen Olivia und James ab. Das würde zu rau, ruppig und holprig. So geht es wieder nach Süden. Mit der Flut gegen die Strömung, gegen Wind und Wetter.

Nach zehn Tagen läuft die Forschungsyacht wieder in den Hafen von Tobermory ein. 366,9 Seemeilen (fast 680 Kilometer) liegen hinter ihr, 28 Sichtungen von 71 Meeressäugern wurden von den Biosphere-Freiwilligen dokumentiert – und über 600 Positionen von Lobsterkäfigen.

Die Konzentrationen an PCB in Meeressäugern waren 2013 nur ein Thema am Rande. Das sollte sich jetzt ändern. Denn wenngleich die Verbindung (die als Weichmacher in Lacken, Dichtungsmassen und Isoliermaterialienseit eingesetzt wurde) den 80er Jahren nicht mehr verwendet wird, ihre Rückstände sind in den Weltmeeren allgegenwärtig. Lulus Tod und das Vergehen der „West-Coast-Community“ belegen, dass es hoch an der Zeit ist, sich dieses Problems anzunehmen – gegen toxische Stoffe sind Schutzgebiete machtlos. (fvk)

Trügerisches Idyll © Privat

Trügerisches Idyll © Privat

Die ursprüngliche Reportage über die Expedition in die Hebriden erschien in der Oktober-Ausgabe des Universum Magazins 2013. Die Reise erfolgte auf Einladung von Biosphere Expeditions.

Sehen. Entdecken.

Sie zählen zu den schönsten Momenten des Lebens, jene Augenblicke, in denen man sich als Entdecker wähnt. In denen man Entdecker ist, zum ersten Mal mit etwas Neuem konfrontiert, hingerissen von der Intensität der Andersartigkeit, beseelt vom Wunsch, diese Erfahrung zu teilen. Mit Hilfe von Fotos, schriftlich oder auch nur mündlich.

„Eisberg“ von Franz Boas @ American Philosophicel Society, Philadelphia

„Eisberg“ von Franz Boas @ American Philosophicel Society, Philadelphia

Ich erinnere mich meines ersten Aufenthalts im Okavango Delta. Im Dezember 1993 fuhren der Fotograf Leo Fabian und ich von Johannesburg aus quer durch Botswana um uns einen dringenden Wunsch zu erfüllen, Afrika hautnah zu erleben. Wir hatten keine Ahnung, worauf wir uns einließen, wir kannten den afrikanischen Busch nicht. Oder nur sehr am Rande.

Dann waren wir mittendrin. Mit Mokoros (Einbäumen) wurden wir entlang dichter Papyruswälder über eine Unzahl von Wasserläufen zu immer neuen Zielen gestakt, schlugen unsere Zelte irgendwo auf kleinen Inseln auf, unternahmen stundenlange Fußmärsche durch sengende Hitze, begleitet und geführt von zwei Einheimischen, notabene ohne Gewehr und also stets auf der Hut.

An einem Nachmittag lagerte ich im Schatten eines Baumes und war still und glücklich. Ich hatte mein Glück gefunden, die unentdeckten Orte dieser Welt, die wilden Plätze, fernab jeder Zivilisation. Das war, worüber ich von nun an berichten wollte, in Artikeln und in Büchern, vielleicht sogar in Dokumentarfilmen. Ich, Livingstone. Ich, Stanley. Ich, Speke. Immer mit einem Notizbuch in Reichweite.

Zurück in Kapstadt untersuchten wir das Bildmaterial, auf dessen Ausarbeitung wir so ungeduldig gewartet hatten wie Kinder auf die weihnachtliche Bescherung. Mit der Lupe beäugten wir jedes Foto, auf der Suche nach Details, nach unseren Erinnerungen.

„Weibchen des Gürtelfischers“ von John James Audubon @ Houghton Library, Harvard University, Cambridge

„Weibchen des Gürtelfischers“ von John James Audubon @ Houghton Library, Harvard University, Cambridge

Auf den Bildern des ersten Abends fiel mir etwas auf, dessen ich mir vor Ort gar nicht bewusst gewesen war. Im Schatten des Dickichts jenseits einer weiten Fläche machte ich die Silhouetten von Elefanten aus. Warum Leo mich nicht auf sie aufmerksam gemacht hätte, verlangte ich zu wissen. Welche Elefanten? – Diese hier, auf den Mittelformatfotos. – Da sind keine Elefanten. Wir haben am ersten Abend gar keine gesehen.

Leo hatte Recht. Wir hatten sie nicht gesehen.

Und er irrte. Sie waren da gewesen. Für unsere ungeübten Augen nicht zu erkennen, durch Zufall nur fotografisch dokumentiert.

Womit ich eine Lektion gelernt hatte. Man sieht nur, was man kennt. Und – Entdeckungen lauern überall.

Eine solche ist das Buch „Kosmos großer Entdecker – Leben, Skizzen, Notizen“ von Huw Lewis-Jones und Kari Herbert. Die beiden Autoren unternehmen eine vollkommen anders geartete Entdeckungsreise, sie stoßen in Archive vor, in Bibliotheken, in private Sammlungen auf Dachböden und in Kisten. Ihr Ziel ist klar, sie wollen Notizen, Skizzen, Bilder, Aufzeichnungen von Forscherinnen und Forschern zusammenstellen, den Zauber des Erstmals, aber auch die Strapazen, die Mühen, die Widrigkeiten und all die Schönheit in einem Buch zusammenfassen.

„Karte des Vesuv, auf der historisch verbriefte Lavaströme eingezeichnet sind“ von John Auldjo @ Houghton Library, Harvard University, Cambridge

„Karte des Vesuv, auf der historisch verbriefte Lavaströme eingezeichnet sind“ von John Auldjo @ Houghton Library, Harvard University, Cambridge

Was sie zusammengetragen haben, ist bemerkenswert. In jeder Hinsicht bemerkenswert. Nicht nur spannen sie einen Bogen, der vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht, und nicht nur vereinen sie Frauen wie Gertrude Bell, Amelia Edwards, Maria Sibylla Merian und Alexandrine Tinne (um nur ein paar zu nennen) mit ihren männlichen Kollegen wie Roald Amundsen, Bruce Chatwin, Thor Heyerdahl, John Hanning Speke und Edward Wilson. Sie präsentieren Geschichten von und über die Entdecker. Sie nehmen ihre Notizen zur Hand, bereiten ihre Skizzen, ihre Zeichnungen, ihre Bilder auf, schaffen einen Kosmos des Erstaunens und der Hingerissenheit.

75mal konfrontieren die Autoren ihr Publikum mit 407 kunstfertigen Abbildungen.

Das sind nicht einfach Skizzen, ungefähre Bestimmungen, es sind auch keine Punkte entlang bestimmter Koordinaten, es sind Portraits unerwarteter Intensität. Eine Sammlung kleiner und großer Meisterwerke – entstanden im Zuge der Forschung.

Manche haben darüber hinaus auch geschichtliche Bedeutung, so wie die Notizen David Livingstones, die er in einem Versteck anfertigte, während Sklavenhändler ein Dorf überfielen und seine Bevölkerung entweder niedermetzelten oder gefangen nahmen. Livingstone hatte sich verborgen und schrieb fieberhaft auf dem wenigen Papier, welches er zur Verfügung hatte ­– ein paar Seiten des London Evening Standard. Er schrieb sie voll. Mit einem Augenzeugenbericht, der, so kann man das sagen, die Welt aufrüttelte. Die Schrift ist längst verblasst, schon gar nicht mehr zu lesen, gäbe es da nicht die Möglichkeit spektraler bildgebender Verfahren, die den Bericht aus der Deckung wieder lesbar machen. Auch diese Seiten finden sich in dem Buch.

„Larven und Puppen, Südafrika“ von Margaret Fountaine @ The Trustees of the Natural History Museum, London

„Larven und Puppen, Südafrika“ von Margaret Fountaine @ The Trustees of the Natural History Museum, London

Und dazu kurze, pointierte Darstellungen der Forscherinnen und Entdecker. Keine Heldensagen, oftmals Berichte von Ungemach, von Zweifel, von Langeweile und Öde, oft genug von Todeskämpfen und Verzweiflung. Sowie von den Notizen, Skizzen und Bildern und Karten, die davon Kunde geben sollten.

Im Juli 1883 sitzt der deutsche Geograf Franz Boas wochenlang auf einem Schiff im Packeis der Arktis fest. Er greift zu Pinsel und Stift und hält einfach fest, was er sieht. Eisberge. In hellem Weiß, schimmernd kalt, auf tiefblauem Wasser treibend. Bedrohlich. Fesselnd und berückend schön.

Ein Nebenprodukt seiner Tätigkeit, denn eigentlich hat Boas einen neuen Ansatz in die Anthropologie eingebracht, den „Vier-Felder-Ansatz“, eine „Methodologie, die Archäologie, Linguistik, biologische Anthropologie und Kulturantrhopologie verknüpft – und für eine umfassende Forschung, Feldforschung und volkskundliche Studien steht“. Boas hatte ein Jahr lang mit und unter den Inuit gelebt, trug ihre Kleidung, aß, was sie aßen, lernte ihre Sprache, lauschte ihren Erzählungen und wurde, so weit möglich, zu einem der Ihren.

„Schmuck, ein Frosch und eine Kröte“ von Olivia Tonge @ The Trustees of the Natural History Museum, London

„Schmuck, ein Frosch und eine Kröte“ von Olivia Tonge @ The Trustees of the Natural History Museum, London

Olivia Tonge beobachtete gänzlich anders. Stark kurzsichtig wie sie war, blieb ihr die Landschaftsmalerei verwehrt. Nicht aber die Abenteuerlust und das Gespür für das Detail. „Und es begab sich“, schrieb sie, „dass eine gewisse Großmutter, als sie beinahe vier Dutzend und zwei Jahre alt war und in die Jahre gekommen, all so zu sich sagte – Siehe, malen werde ich nun [...] und wahrlich kein Mann wird sie aufhalten.“ Drei Jahre lang bereiste sie ab 1908 Indien und Pakistan und füllte 16 Skizzenbücher. Hier nun kommt sie zu Ehren. Verdientermaßen.

„Robert Scott in seinem ,Arbeitszimmer‘ am 7. Oktober 1911“ @ Herbert Ponting

„Robert Scott in seinem ,Arbeitszimmer‘ am 7. Oktober 1911“ @ Herbert Ponting

Eine Edition längst vergangener Tage, könnte man meinen. Dem widersprechen Lewis-Jones und Herbert. Sie zitieren den Meereskundler William Beebe, der erklärte, dass Langeweile unmoralisch sei. „Alles, was ein Mann tun muss, ist hinzuschauen. Überall um uns herum inszeniert die Natur die spannendsten Abenteuergeschichten aller Zeiten, aber wir müssen unsere Augen aufmachen. Letzten Monat bin ich zu Fuß über unser Gelände gegangen, als eine Termitenkönigin mit dem Bau ihrer wundersamen Stadt begann. Ich sah sie, weil ich nach unten blickte. Eines Nachts flogen drei Riesenflughunde vor dem Mond vorüber. Ich sah sie, weil ich nach oben schaute. Für manche Menschen ist der Dschungel ein chaotischer Ort voller Gefahren. Aber für denjenigen, der sehen kann, bilden seine Ranken und Pflanzen einen wunderschönen und sorgfältig angeordneten Gobelin.“

Dem ist nichts hinzuzufügen. (fvk)

Sämtliche Abbildungen sind dem Buch „Kosmos großer Entdecker – Leben, Skizzen und Notizen“ entnommen.

„Kosmos großer Entdecker – Leben, Skizzen und Notizen“

Texte von Huw Lewis-Jones, Kari Herbert, Sir Ghillean Prance, Alan Bean, Tony Foster, David Ainley, Wade Davis. Aus dem Englischen von Tracey J. Evans

320 S. | 407 Abb. | € 44,90 (D) | € 46,20 (A)

ISBN 978-3-944874-47-0

Sieveking Verlag, München, 2016 | www.sieveking-verlag.de

Wollmammuts Wiederkehr

Nashorn, Afrikanischer Elefant, Löwe und Gepard – allesamt Arten unter extremen Druck. Vom Aussterben in freier Wildbahn akut bedroht. Wenn die Wilderei nicht gestoppt, die Habitate nicht gesichert werden. Eine Mammutaufgabe.

© NHM Wien/Kurt Kracher

© NHM Wien/Kurt Kracher

Der Molekularbiologe George Church propagiert eine andere – die Wiederkehr des Wollmammuts. Damit sorgt er für Schlagzeilen, selbst wenn er eingestehen muss, dass es sich bei dem Tier, welches da binnen zweier Jahre ins Leben gesetzt werden soll, eigentlich um einen hybriden Elefanten-Mammut-Embryo handeln wird, um einen „Mammufant“.

Möglich ist das. Das geht. Das ist nicht Science Fiction, das hat auch nichts mit Jurrasic Park zu tun. Ist die Erbinformation vorhanden, und gibt es noch Restbestände der Population, oder gibt es überlebende nächste Verwandte, dann kann die alte DNA im Sinne des Wortes eingesetzt werden.

Die DNA des Mammuts ist bekannt und extrahiert. Sie liegt vor. Sie könnte, sie kann – mittels der „Genschere“ CRISPR-cas9, jener Methode, die es erlaubt, mit höchster Präzision in das Erbmaterial einzugreifen und Gene gezielt zu verändern – nun eingesetzt werden, um ein Lebewesen zu kreieren, welches „mehr ein Elefant mit einer Reihe von Mammut-Merkmalen ist“, so Church. Also definitiv kein Wollmammut, wie es vor 4.000 Jahren noch durch die Tundra zog.

Doch wozu? Worin liegt der tiefere Sinn, das Mammut oder andere, längst verschwundene Tierarten, gleichsam auferstehen zu lassen? George Church argumentiert, durch die Modifikationen ließe sich der ebenfalls vom Aussterben bedrohte Asiatische Elefant in etwas anderer Form erhalten. In kühleren Habitaten. In Sibirien zum Beispiel oder in Alaska.

In den USA wird diese Frage schon seit 2015 immer wieder und höchst kontroversiell diskutiert.

Die Befürworter rund um Church setzen bei einer prinzipiellen Frage an: Warum schützen wir denn überhaupt Tiere? Elefanten in Afrika, Eisbären in der Polarregion oder Pandas in China. Warum wird in diese Bemühungen so viel an Zeit, Energie und auch an finanziellen Mitteln investiert?

Um die Biodiversität dieses Planeten nicht zu verlieren. Um Arten, die eine wichtige ökologische Rolle einnehmen, zu schützen. Um ganze Ökosysteme zu erhalten. Um zu lernen. Und: Um ein wenig von dem wiedergutzumachen, was die Spezies Homo sapiens anderen Lebewesen angetan hat. Dem Dodo zum Beispiel, oder der Amerikanischen Wandertaube.

„Alle diese Gründe“, so der Biologe und Publizist Stewart Brand, „treffen auch auf die Frage zu, warum wir ausgestorbene Arten wieder ins Leben rufen sollen. Und noch mehr: Allein die Vorstellung, dass Herden von Mammuts wieder durch den Hohen Norden streifen; oder dass regelrechte Wolken von Wandertauben im Himmel über Amerika wieder die Sonne verdunkeln. Es wäre eine Neuausrichtung unserer Möglichkeiten, vergleichbar der ersten Landung auf dem Mond.“

Amerikanische Wandertaube 1898 © Wikimedia/J.G. Hubbard, Internet Archive Book Images

Amerikanische Wandertaube 1898 © Wikimedia/J.G. Hubbard, Internet Archive Book Images

Die Wandertaube war einst in Nordamerika in Millionen, in Milliarden vertreten. Beliebt, weil einfach zu bejagen und schmackhaft. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war sie ausgerottet. Bis auf das letzte Exemplar. Das warnende Beispiel des Vogels vor Augen, wurden Anstrengungen unternommen, wenigstens die Restbestände des Bisons zu retten. Brand: „Dieses Ereignis stand am Beginn der Idee und dann der Praxis, bedrohte Tierarten zu schützen. Wie gut wäre es, diesen menschlichen Fehler, der den modernen Schutzgedanken hervorrief, zu revidieren.“

„Sollen wir?“, fragt hingegen Paul R. Ehrlich, Professor for Population Studies an der Stanford University. „Sollen wir? Oder, noch wichtiger: Können wir? Wäre es denn wirklich möglich?“ Aus wissenschaftlicher Sicht sicherlich, hält Ehrlich fest. Die Fortschritte in der Forschung, vor allem im Bereich der Genetik, innerhalb kürzester Zeit sind atemberaubend.

Wozu aber? Es wäre eine falsche Investition, meint Ehrlich. „Es ist viel sinnvoller, die ohnehin limitierten Ressourcen für Forschung und Schutz darauf zu konzentrieren, die Ausrottung zu verhindern. Indem die Gründe dafür endlich angegangen werden: Die Zerstörung von Lebensraum, Klimawandel, Verschmutzung, Überfischung und so weiter.“

Es gingen die Befürworter auch von falschen Erwartungen aus, so Ehrlich. In welchen Habitaten sollten die Tiere denn leben? Die endlosen Wälder, welche der Wandertaube als Lebensraum dienten, sind verschwunden. Die amerikanische Kastanie, von deren Früchten sich der Vogel ernährte, ist – wie die Taube – praktisch ausgestorben.

Vor allem aber: „Wenn die Menschen beginnen, eine ,Jurassic-Park-Zukunft‘ ernst zu nehmen, werden sie weniger unternehmen, das gegenwärtige sechste Massensterben zu verhindern.“

Mammut nicht Mammufant beim Festtreten sibirischen Schnees © NHM Wien/Kurt Kracher

Mammut nicht Mammufant beim Festtreten sibirischen Schnees © NHM Wien/Kurt Kracher

George Church, der das „Mammut-Projekt“ im Rahmen des Jahrestreffen der „American Association for the Advancement of Science“ (AAAS) in Boston vorstellte, hegt unterdessen große Erwartungen. Zum einen solle so der Asiatische Elefant vor dem Aussterben bewahrt werden, zum anderen solle den Auswirkungen des Klimawandels entgegengewirkt werden. Der „Mammufant“ könnte, indem er Schnee festtritt, das Auftauen des Permafrostbodens und damit das Entweichen des Treibhausgases Methan in die Atmosphäre verhindern. So Church, der gerne in großen Zusammenhängen denkt.

Bei dem Jahrestreffen der AAAS geht es indes heuer vor allem um Fragen der Ethik im Zusammenhang mit Gentechnik. George Church und sein Projekt tragen so gesehen wesentlich dazu bei, dass diese Fragen in allen ihren möglichen Auswirkungen erörtert werden. (fvk)

Die Auslöschung

©fvk

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Wenn es Abend wird in Palala, greift Alpheus nach einer Decke und begibt sich ins Freie. Zu den Nashörnern, die hier im Schutz der südafrikanischen Waterberge leben.

Er begleitet sie durch die Nacht. Lauscht nach Motorgeräuschen. Hält Ausschau nach Lichtern, die durch das Grasland und den Busch irrlichtern.

Derweil sitzt Selomie Maritz in ihrem Wohnzimmer. Im Hintergrund knacken und quäken Funksprüche. Ein Auto wurde gesehen. Ziel unbekannt. Weiteres in Kürze.

Selomie Maritz wartet. Sie wartet auf die Nachricht, dass die Wilderer auch auf ihr Gebiet vordringen. Sie wartet auf Nachricht von Alpheus. Hofft, dass er sich nicht meldet. Hofft, dass auch diese Nacht wieder vorübergeht. Ohne dass ihre Nashörner Ziel der Wilderer werden. Unterdessen schickt sie Updates via Facebook in alle Welt und erhält im Gegenzug Zuspruch und Zuwendungen.

Bislang hatte sie, hatten ihre Nashörner Glück. Doch der Druck wächst. „In einem benachbarten Reservat wurde ein Nashorn erschossen, sein Horn mit der Motorsäge abgetrennt“, Selomies Stimme wird brüchig. Für das Horn gehen die Wilderer über Leichen. Keine Woche, kaum ein Tag, an dem es keine Meldung über niedergemetzelte, enthornte Rhinos gibt.

2013 wurden allein in Südafrika 1.004 Nashörner von Wilderern getötet. 1.215 waren es 2014.  2015 wurde zum ersten Mal seit langem ein leichter Rückgang an Verlusten  verzeichnet – auf 1.175. Zu viel. Viel zu viel.

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Bis 2007 herrschte weitgehend Ruhe in den Reservaten und Nationalparks Südafrikas. Die Bestände der Nashörner wuchsen an, auf heute rund 20.000. 75 Prozent aller Nashörner sind in Südafrika zu finden.

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Eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Um 1920 waren gerade noch knapp 100 Breitmaulnashörner am Leben. 100 von den einst hunderttausenden, die es in Afrika gegeben hatte, bevor die europäischen Großwildjäger eintrafen.

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Nach heutigen Kriterien war das Nashorn damit in freier Wildbahn eigentlich ausgestorben. Doch ausgehend von dieser Handvoll Rhinos gelang es in Umfolozi ihre Zahl zuerst zu stabilisieren, dann zu erhöhen. In den 50er Jahren gab es bereits wieder rund 1.000 Tiere. In den 70ern rund 2.500. Von Südafrika aus wurden andere Gebiete in Afrika wieder mit Nashörnern, vor allem Breitmaulnashörnern, besiedelt. Selbst die Wilderei ging zurück.

Bis ein vietnamesischer Minister öffentlich kundtat, seine Krebserkrankung sei dank Rhinohorns geheilt worden. Seither steigt die Nachfrage im Fernen Osten sprunghaft an. Die Preise erreichen astronomische Höhen. Ein Kilo Rhinohorn wird mit bis zu 60.000, 70.000 Dollar gehandelt.

Der Mythos von der Heilkraft des Rhinohorns ist alt. Uralt. In der traditionellen chinesischen Medizin wird es – wie Tigerknochen – seit Tausenden von Jahren als Heilmittel eingesetzt.

„Versuch‘ einmal gegen einen Glauben vorzugehen“, meint der Ranger Joostie Bornman in Palala. „Noch dazu, wenn er so alt ist wie dieser. Dagegen ist das Christentum jung. Einen Glauben kannst du auch mit noch so vielen Aufklärungskampagnen nicht aus der Welt schaffen. Wir haben ein Problem. Ein großes Problem.“

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Alles nur wegen des Horns. Dabei besteht es aus Keratin – wie menschliche Haare und Fingernägel. „Sollen sie doch einmal versuchen, ihre Krankheiten damit zu heilen“, wirft Selomie Maritz ein. „Dann sehen sie, dass das nichts nutzt. Gar nichts. Das müssen wir den Asiaten klarmachen.“ Selomie Maritz glaubt an die Kraft der Aufklärung. Und sie glaubt an ihr Unterfangen.

„Die Nashörner in den Nationalparks sind verloren. Der Staat hat weder die Möglichkeiten noch die Mittel, die Tiere effektiv zu schützen. Es geht darum, kleine Refugien zu schaffen. Inseln, auf denen die Nashörner überleben können. Bis dieser Wahnsinn vorbei ist.“ Ihr Palala Rhino Sanctuary ist ein solches Refugium.

Sie ist nicht die Einzige, die sich engagiert. „Rettet unsere Rhinos“, diesem Slogan begegnet man in Südafrika an allen Ecken und Enden. In Form von Aufklebern auf Autos; aufgestickt auf Taschen; Unternehmen preisen ihren Anteil am aktiven Schutz lauthals an. Allein die Initiative „Unite Against Poaching“ hat in den ersten eineinhalb Jahren ihres Bestehens 3,7 Millionen Rand (rund 285.000 Euro) aufgetrieben und unterstützt Rangereinheiten im Krüger Nationalpark.

Es fehlt auch nicht an Ideen, wie man die Tiere schützen könnte. Ihre Hörner wachsen nach. Also kann man sie abschneiden – hornlos sollten die Tiere für Wilderer uninteressant sein. „Das hat nichts gebracht“, so Jurie Moolman, Eigentümer des Djuma Game Reserves in Sabi Sand. „Die Wilderer haben enthornte Nashörner erst recht getötet – um nicht ein zweites Mal Zeit zu verlieren.“

Eine andere Idee ist, das Horn mit einer Chemikalie zu präparieren. Dem Tier schadet sie nicht. Wohl aber den Menschen, die das Horn zu sich nehmen. „Es wird ihnen schlecht. Sie werden krank“, erklärt Selomie Maritz. Das trifft auf ihre Zustimmung. Vor allem hofft sie, dass das Horn dann nicht mehr gefragt ist.

Diese Hoffnung könnte sich als trügerisch erweisen. In Vietnam und China gilt der Besitz von Rhinohorn als Zeichen des Wohlstands. Wer es hat, der hat es geschafft. Es wird aufgehoben, in einer Vitrine präsentiert. Die Vietnamesen verstehen nicht, dass die Welt es zulässt, dass die Tiere dafür sterben müssen. Man könnte das Horn doch „ernten“, abschälen, abschneiden. Ohne dem wertvollen Tier dabei zu schaden.

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Diese Ansicht trifft in Südafrika durchaus auf Sympathie. „Ich bin dafür, den Handel, den kontrollierten Handel, mit Rhinohorn freizugeben“, merkt Moolman an. Damit könne dem Schwarzmarkt der Boden entzogen werden, die lukrierten Gelder könnten direkt in Maßnahmen zugunsten des Artenschutzes einfließen.

Derzeit ist es umgekehrt. Immer mehr private Reservate kürzen ihre Mittel für den Erhalt von Löwen, Wildhunden, Elefanten, für Forschung und Wissenschaft radikal. Oder stellen sie auf Null. Jeder Cent wird für den akuten Schutz der Nashörner gebraucht.

Wenn es Abend wird in Sabi Sand, dann hört man vom nahen Krüger Park das dumpfe Knattern von Armeehubschraubern. Sie fliegen Patrouille. Am Boden sind Ranger und Soldaten mit Hundestaffeln unterwegs und versuchen zu schützen, was kaum zu schützen ist.

Der Krüger ist so groß wie Israel. Zudem sind die Zäune zwischen Südafrika und Mosambik gefallen – um den Wildtieren die Möglichkeit zum Wandern zu bieten. Einstweilen machen vor allem die Wilderer von der Freizügigkeit im Busch Gebrauch. „Diese Leute haben Erfahrung im Buschkrieg“, erklärt Bornman. „Sie wissen, wie man sich im Busch zu verhalten hat. Sie sind bestens ausgebildet. Sie verfügen über bestes Material. Über Hubschrauber, Funk, Bodenunterstützung. Sie wissen genau, wo sie zuschlagen müssen. Sie liefern sich Feuergefechte mit Soldaten und Rangern. Das hier ist Krieg.“

Dahinter stehen organisierte Banden, die für Nachschub, Information und Transport sorgen. Die Wilderer wissen, was sie wollen und wie sie es erreichen. Ihre Gegner aber sind untereinander uneins über den richtigen Weg, mit dem Problem umzugehen. Handel oder kein Handel? Präparierte Hörner? Kein Pardon für Wilderer? Druck auf Vietnam und China? Und wenn, wie?

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Oder ist die Wilderei doch nichts anderes als ein Ausdruck der verarmten, perspektivlosen Bevölkerung in Afrikas Ländern?

Wer zu Jurie Moolmans Djuma Game Reserve fährt, durchquert die Region von Buffelshoek. Rund 800.000 Menschen leben hier, 70 Prozent der Bevölkerung haben keine Arbeit, es fehlt an Unternehmen, es fehlt an Ausbildungsstätten. Es fehlt an Zukunft. Woran es nicht fehlt, sind Hoffnungslosigkeit und Aids – jeder Vierte hier ist HIV-positiv. Buffelshoek zählt zu den 23 ärmsten Bezirken Südafrikas.

Vor zwölf Jahren hat der „Buffelshoek Trust“ seine Arbeit aufgenommen. Initiiert und vorangetrieben unter anderem von Jurie Moolman, der seine Aufgabe nicht nur darin sieht, die Natur und die Tierwelt zu bewahren, sondern auch den Menschen eine Zukunft zu geben. Zumindest dazu beizutragen. 30 Millionen Rand (2,3 Millionen Euro) hat der Trust seither aufgebracht und in Projekte in den Manyaleti-Dörfern investiert. Vor allem in Schulen. „Bildung“, sagt Moolman, „ist der Schlüssel für ein besseres Leben. Darum geht es.“

Afrikas Armut ist Afrikas Schwachpunkt.

„Es ist so verlockend. Für nur eine kleine Information erhält man Geld“, überlegt Ted Reilly. „Geld, um ein Haus zu bauen, das Schulgeld, den Arzt, was auch immer zu zahlen. Für nur eine kleine Information. Über ein Loch im Zaun. Über Nashörner auf der anderen Seite. Man tut nichts, nur ein wenig Wissen weitergeben. Doch damit ist man in den Fängen der Mafia!“

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Ted Reilly hat Erfahrung mit der Mafia. Er ist ein gerne angeführtes Beispiel für den erfolgreichen Kampf gegen die Wilderei. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre herrschte in dem kleinen Königreich Swasiland der „Rhinokrieg“. Zwischen 70 und 80 Prozent aller Nashörner wurden damals abgeschlachtet. Und Ted Reilly, dessen Reservate Mlilwane und Mkhaya gemeinsam mit dem Nationalpark Hlane die „Kingdom of Swaziland‘s Big Game Parks“ formen, stand an vorderster Front. „Es geht um Geld“, bekräftigt er. „Es geht immer um Geld und um die Möglichkeiten, die es einem bietet.“

Das organisierte Verbrechen hat viele Verbündete. Das Streben nach Geld, Korruption, Indifferenz. „Wir haben in Swasiland ein Gesetz durchgesetzt, das als unbedingte Mindeststrafe für Wilderei fünf Jahre vorsieht. Und alle, die Wilderei begünstigen, fallen ebenfalls unter diese Strafandrohung“, sagt Reilly. Es gab Proteste, auch von Seiten einiger Menschenrechtsorganisationen. „Aber König Mswati hat den Gesetzesvor- schlag unterstützt!“ Swasiland ist die letzte absolute Monarchie Afrikas.

Das kompromisslose Vorgehen imponiert vielen Südafrikanern. So und nichtanders lässt sich dasProblem lösen. Sagtauch Selomie Maritz. Swasiland ist für sie die letzte, die sicherste Insel für Nashörner in Afrika. Käme es darauf an, würde sie ihre Tiere hierher bringen, sagt sie.

„Wir hätten keinen Platz“, sagt Mick Reilly, Teds Sohn. „Was für Swasiland richtig ist, muss für Südafrika nicht richtig sein. Jedes Land muss seinen Weg finden.“

Die Nashorn-Wilderei, so Reilly, ist kein afrikanisches, es ist kein rein afrikanisch- asiatisches Problem. Seine Lösung hängt auch davon ab, ob Europa und Amerika bereit sind, im Rahmen der nächsten CITES-Konferenz 2016 auf die Idee des Nashorn-Erntens und -Handels einzugehen.

Am wichtigsten ist es daher, meint er, der Korruption den Kampf anzusagen. Können Südafrika und die anderen Länder der Region nachweisen, dass sie dieses Problem im Griff haben; können sie nachweisen, dass die eingesetzten Mittel wirklich für Artenschutzprogramme verwendet werden und nicht versickern, dann sollte es möglich sein, den kontrollierten Handel mit Rhinohorn zuzulassen.

„Europäer und Amerikaner sollen sich nicht länger einfach nur verweigern. Sie müssen im Gegenzug Druck auf die afrikanischen Länder ausüben, absolute Transparenz im Handel und bei der Verwendung der Mittel zu garantieren.“ Letztendlich steht und fällt der Artenschutz – und nicht nur der Schutz der Nashörner – mit den vorhandenen Geldmitteln. Die aber sind knapp in den afrikanischen Ländern.

Deswegen setzen die privaten Reservate auf den Tourismus. Heute mehr denn je. „Wir brauchen jeden Cent für unsere Arbeit. Der Tourismus garantiert uns eine finanzielle Basis“, so Reilly. Auch in Mkhaya patroullieren Ranger mit Schnellfeuergewehren und speziell trainierten Hunden. „In Mosambik ist das Nashorn innerhalb von 100 Jahren heute bereits zum dritten Mal ausgerottet. Jetzt sind Südafrika und der Krüger Park die einfachsten Ziele. Irgendwann werden die Wilderer auch uns wieder aufs Korn nehmen“, merkt Mick Reilly noch an. „Es ist nur eine Frage der Zeit.“

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In Palala bereitet sich unterdessen Alpheus auf eine weitere Nacht im Busch vor. Ausgestattet mit einer Decke und einem Mobiltelefon. Um Unterstützung anfordern zu können. (fvk)

 

 

 

  

Denken, nicht nur gedacht

Foto: Universität Wien 

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Mit der „Biopsychologie des Verstandes“ setzte sich das 2. Biologicum Almtal auseinander. Eine Tour de Force durch die Evolution bis hin zum Brain-Computer-Interface. 

Am Anfang ist ein Affe. Sein Körper ist gefesselt. Sein Gehirn über ein Interface mit einer Prothese verbunden. Und dann sind da Bananenstücke. Die will der Affe haben. Und so bewegt er die Prothese zu der Frucht, nimmt sie in die Prothesenhand. Führt sie zum Mund und frisst sie. Reine Willenskraft, die über 32 Zellen eine Prothese steuert.

„Die Sache ist nicht so kompliziert wie wir denken“, kommentiert Neuropsychiater Niels Birbaumer die Videosequenz zu Beginn seines Vortrags. „Die Sache“, das ist das Gehirn. Unser Gehirn. Die Gehirne der Säuger. Also die auch unserer nahen Verwandten. Im Grunde funktionieren sie alle nach demselben Prinzip. Trotzdem ist das Gehirn dann doch wieder ein Rätsel. So wie das Denken, die Logik und die Emotion.

Grünau im Almtal, Anfang Oktober. Das 2. Biologicum findet statt und hat das Denken zum Thema erkoren. Die Biopsychologie des Verstandes.

Diese Ergänzung ist essentiell. Es geht nicht um die Philosophie, nicht um die Geisteswissenschaft, es geht um die Naturwissenschaft. Dass philosophische Fragen dennoch immer wieder auftauchen, das versteht sich von selbst. Dennoch verharren sie im Hintergrund. „Das hier ist das Biologicum, nicht das Philosophicum“, hält Kurt Kotrschal fest.

Als Zoologe hat er gleichsam eine Rechnung offen mit der Philosophie. Genauer gesagt mit René Descartes, dessen Diktum Cogito ergo sum „Denken, Bewusstsein und Geist zu absoluten Maßstäben erhob. In seiner Überschätzung der menschlichen Bewusstseinsfähigkeit machte er sie zum Hauptkriterium der Unterscheidung vom ,Tier‘ und vertiefte so den Graben zwischen ,uns und den anderen‘“, kritisiert Kotrschal in seinem Eröffnungsvortrag.

Hier der Mensch... (Foto: Simon Wijers/Unsplash)

Hier der Mensch... (Foto: Simon Wijers/Unsplash)

Hier der Mensch. Des Denkens fähig. Und damit sich seiner bewusst. Krone der Schöpfung.

Dort das Tier. Reflexgesteuert. Allenfalls dressurfähig. Die Kreatur, die man sich untertan machen kann und darf.

...dort das Tier. (Foto: Josh Felise/Unsplash)

...dort das Tier. (Foto: Josh Felise/Unsplash)

Wobei Michel de Montaigne noch vor Descartes eine Gegenposition formulierte. Indem er „Geist und Denken fest mit den Sinnen und dem Körper verband. Er bereitete damit den Boden für das ,Darwinsche‘ (evolutionäre) Kontinuum zwischen uns und den anderen Tieren, auch was die Denkfähigkeit betrifft“, tritt Kotrschal sogleich zur Ehrenrettung der Philosophie an.

Was freilich bleibt, ist die Wirkmacht von Descartes. Die Kraft seines Bildes vom denkenden und damit seienden menschlichen Wesen als einzigartig.

Dem ist nicht so. Das ist im Grunde eine Kränkung des Menschen. Eine von vielen, die er hinnehmen musste im Laufe der Geschichte. Dank der Wissenschaften.

Eine der ganz großen ist, dass er, der Mensch, sich mit den Affen Vorfahren teilt. Dass er eigentlich nichts anderes ist als eine, nun ja, Primatenart. Dafür wurde Darwin gescholten. Dafür wird er gescholten. Diese Kränkung sitzt tief. Doch nun stellen seine wissenschaftlichen Nachfolger noch mehr fest: Auch andere Tiere (Kotrschal) sind zu höchst staunenswerten kognitiven Leistungen fähig. Sogar zur Empathie.

Tiere denken ähnlich wie wir. Sie treffen flexible Entscheidungen, handeln nach Ursache-Wirkungszusammenhängen, stellen sich die Zukunft vor und planen
— Kurt Kotrschal

Elefanten trauern. Wölfe lösen Aufgaben. Raben pflegen Freundschaften. Papageien nutzen Werkzeuge, verstehen Sinn und Einsatzmöglichkeit von Worten und Begriffen. Das Tier mit „Köpfchen“, einst bestauntes Kuriosum auf Jahrmärkten, die Ausnahme, die die Regel bestätigt, ist keine Ausnahme. Tiere, so Kotrschal „können ähnlich wie wir denken. Sie treffen flexible Entscheidungen, handeln nach Ursache-Wirkungszusammenhängen, stellen sich die Zukunft vor und planen“.

Basis all dessen ist das Gehirn. In all seinen Ausformungen und Gestalten.

Vor rund 550 Millionen Jahren beginnt das Gehirn sich zu entwickeln. Erst einfach, als Konzentration der Sinnesorgane schon bei kieferlosen Wirbeltieren. Sozusagen als ein schlichter Sammelpunkt an dem Nervenstränge zusammenlaufen. So wie er immer noch beim Neunauge vorhanden ist. Einfach gestrickt.

Dabei bleibt es nicht. Im Zuge der Evolution entwickelt sich ein immer komplexeres System das zu großen, flexiblen, lern- und denkfähigen Gehirnen führt. Parallel dazu entwickeln sich neuronale, hormonale, emotional-kognitive und Verhaltensausstattungen, die in der Partnerbindung zum Einsatz kommen. „Über den gesamten Wirbeltierstammbaum, vom Fisch bis zum Mensch, teilen wir strukturell und funktionell ein nahezu identisches, ,soziales Netzwerk‘ im Stamm- und Zwischenhirn“, so Kotrschal.

Alle Wirbeltiere teilen ein nahezu identisches soziales Netzwerk in Stamm- und Zwischenhirn. (Foto: Dean Nahum/Unsplash)

Alle Wirbeltiere teilen ein nahezu identisches soziales Netzwerk in Stamm- und Zwischenhirn. (Foto: Dean Nahum/Unsplash)

 

Mit dem Leben in immer komplexeren Öko- und Sozialsystemen werden weitere, ausgefeilte „Schaltzentralen“ entwickelt. Zentren vieler spezieller und allgemeiner Intelligenzleistungen. Wobei es dem Gehirn nicht anzusehen ist, wie leistungsfähig es ist. „Raben haben ein ganz glattes Gehirn, jenes der Säugtiere hingegen faltet sich. Das sagt nichts aus. Ebenso wenig wie die Größe oder das Gewicht. Entscheidend ist die Anzahl und Dichte der Neuronen“ erklärt der Forscher.

Was den Menschen nun ausmacht, das ist seine Sprachfähigkeit. „Nur Menschen sind zur komplexen Symbolsprache fähig“, fährt Kotrschal fort. „Menschwerdung ist im Kern die Evolution des Wortes und das Wort treibt die Evolution des Menschen. Erst das Wort erlaubt es, das individuelle Denken sozial zu vernetzen, mentale Zeitreisen mit anderen zu teilen, Meinungen zu bilden, zu streiten. Es begründet solchermaßen auch das hohe soziale Prestige geistiger Leistungen.“

Im Anfang war das Wort. So gesehen hat die Bibel recht. Und die ist wiederum ein Ausfluss dieser Fähigkeit. Sie ist eine Geschichte, die Menschen miteinander verbindet. Über alle Ethnien, Kontinente und Sprachen hinweg.

Der Mensch ist ein Worttier. Aber nicht nur. Das Wort braucht die Geste. Es braucht den Gesichtsausdruck. Es braucht den Körper.

Montaigne also. Nicht Descartes.

Dessen stolzer Satz aber sitzt tief im Denken. Auch im jenen der Wissenschaften. „Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Psychologie und der Linguistik“, moniert die Neurowissenschaftlerin Manuela Macedonia. „In der traditionellen Sprachwissenschaft wird nach wie vor behauptet, dass Sprache ein Phänomen des Geistes sei, das aus abstrakten Elementen wie Wörtern und Grammatikregeln besteht.“

Wörter sind in ausgedehnten Netzwerken eingebunden. Sie schließen jegliche körperliche Erfahrung ein, die der Mensch zum Wort in seinem gesamten Leben gesammelt hat
— Manuela Macedonia

Sie legt Widerspruch ein. Vehement. Mit starken Argumenten, empirisch gesichert und belegt. Versteht sich. Das hier ist das Biologicum.

„In Kernspintomografen ,sieht‘ man, dass zum Beispiel Wörter nicht nur in kanonischen Spracharealen, sondern in ausgedehnten Netzwerken eingebunden sind. Solche Netzwerke schließen jegliche körperliche Erfahrung ein, die der Mensch zum Wort in seinem gesamten Leben gesammelt hat“, führt Macedonia aus. Unser Gehirn, ein Erinnerungsnetzwerk.

Die Linzer Forscherin arbeitet beim Erwerb einer Fremdsprache mit unterstützenden Gesten. Gesten bauen eine „motorische Spur“ in das Wortgedächtnis ein. Neue Begriffe werden so besser, weil mehrfach abgesichert, gespeichert.

Gesten bauen eine motorische Spur in das Wortgedächtnis ein. (Foto: Luisa Dusche/Unsplash)

Gesten bauen eine motorische Spur in das Wortgedächtnis ein. (Foto: Luisa Dusche/Unsplash)

„Um sprachliche Vorkenntnisse auszuschließen, die eine Studie beeinflussen können, habe ich fiktive Vokabeln entwickelt. Bei meiner Untersuchung 2003 durften die Testpersonen die Kunstwörter mit oder ohne Gesten lernen“, beschreibt sie ihre Arbeit. Ergebnis: Die Geste bringt es.

„Wie sich zeigte, erinnerten sie sich anschließend auch dann an die neu geschaffenen Wörter besser, wenn sie sie mit Körperbewegungen unterstützten. Besonders interessant war die Langzeitwirkung der Gesten: Nach 14 Monaten konnten die Probanden immer noch etwa zehn Prozent der Wörter wiedergeben. Bei per Bild und Text gelernten Vokabeln lag die Quote nach dieser Zeit nur bei gut einem Prozent“, berichtet sie.

Allerdings verlangt das Gehirn nach sinnvollen Gesten. Nicht nach irgendwelchen Bewegungen. „Je besser die Geste den Wortinhalt abbildet, desto wirkungsvoller ist sie“, so Macedonia.

Durch die Geste wird der Begriff mehrfach konnotiert und abgelegt. Es wird sozusagen ein Assoziationsnetzwerk aufgebaut, das bei Bedarf anspringt und abrufbar ist. Denn unser Denken erfolgt über weite Strecken automatisiert.

Daniel Kahneman beschreibt diese Vorgänge höchst exakt und spannend in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“. Das schnelle Denken sind Entscheidungen die auf Erfahrung, auf Mustern beruhen. Vieltausendfach gespeichert, in Sekundenbruchteilen abrufbar. Die Intuition, effizient und sparsam im Energieverbrauch.

Die Sache ist nicht so kompliziert, wie wir denken
— Niels Birbaumer

Das ist ein wesentlicher Punkt. Unser Gehirn braucht Energie. Rund 25 Prozent der gesamten Körperenergie gehen in unseren Kopf. Zur Informationsverarbeitung. Als Computer wird unser Gehirn bezeichnet, mit einer Festplatte verglichen. Das greift zu kurz. Sicher ist, jedes Gehirn ist einzigartig. Einzigartig in seiner ganz speziellen Art und Weise der Assoziationen. Einzigartig in seiner Vernetzung. Es ist mehr als nur eine auf Algorhitmen aufgebaute Software. Es ist eigentlich ohne den Körper, der es umgibt, der ihm ununterbrochen seine Sinneswahrnehmungen übermittelt, nicht vorstellbar.

Auftritt Birbaumer, führend in der Forschung und Arbeit mit der Neuroprothetik. Oder, einfacher gesagt, mit Brain-Computer-Interfaces. Mittels Gedanken Prothesen zu steuern, das ist längst keine Zukunftsmusik mehr. Es ist machbar. Und es wird bald schon Alltag sein. Birbaumer aber geht einen Schritt weiter. „Wir koppeln Leben an Kommunikationsfähigkeit“, sagt er. Zustimmung ist ihm gewiss. Dann seine Frage: „Was ist mit Lähmung? Endet dann das Leben?“ Seine Antwort ist eindeutig: Nein.

Das Auge als Mittel digitaler Kommunikation. (Foto: Sean Brown/Unsplash)

Das Auge als Mittel digitaler Kommunikation. (Foto: Sean Brown/Unsplash)

Dass Gelähmte mittels ihrer Augenbewegungen schreiben, sich also mitteilen und damit kommunizieren können, Birbaumer demonstriert es. Auch hier noch im Bereich des allgemein Bekannten. „Aber was ist mit den völlig Eingeschlossenen?“, bohrt Birbaumer weiter. Was ist mit ALS-Patienten, die nicht mehr kommunizieren können, auch nicht mit Hilfe ihrer Augenbewegungen? Verloren? Unerreichbar? Ein Fall für die Patientenverfügung?

Auf die reagiert Birbaumer allergisch: „Die zerreiße ich sofort. Und ich werden Ihnen auch gleich erklären warum“. Zuvor noch zum Neurofeedback. „Wir können bei vollkommen Eingeschlossenen die Hirnströme auswerten. Denn das Gehör, das funktioniert,  wir können ihnen also Fragen stellen. Ganz einfache klare Ja-Nein-Fragen und messen gleichzeitig die Hirnaktivität.“ Das können Aussagen sein wie „Ich koche meinen Kaffee mit Socken“ oder „Ich koche meinen Kaffee mit Zucker“. Bei den „Socken“ gibt es im Hirn einen negativen Ausschlag. „Weil verstanden wird, dass es ein semantischer Fehler war“, erklärt Birbaumer. „So kann man feststellen, ob das Gehirn des Patienten noch semantisch und syntaktisch versteht, was da abläuft. Und ich kann daraus schließen, dass das Gehirn in der Lage ist, komplizierte Informationen zu erfassen.“ Es öffnet sich ein Fenster zu den Eingeschlossenen. Erkennbar und deutbar anhand der Hirnaktivitäten.

Birbaumer und seine Kollegen nutzen diese Fenster auch um die Zufriedenheit künstlich am Leben erhaltener vollständig Gelähmter zu erfragen. „Die sind, wenn sie sich erst einmal an ihren Zustand gewöhnt haben, genauso zufrieden wie ein gesunder Durchschnittsmensch, die wollen gar nicht sterben. Ihre einzige Sorge ist vielmehr, dass die künstliche Beatmung ausfällt.“ Daher rührt Birbaumers Aversion gegen Patientenverfügungen. „Da wird aus Angst ein unwiderruflicher Schritt festgeschrieben, weil man sich nicht vorstellen kann, dass auch dieses Leben gut sein kann“, so Birbaumer.

Für Debatten ist also gesorgt. Je besser Neurologen und Kognitionsforscher das Gehirn verstehen, desto mehr Fragen werden sich auftun. Fragen, die unser Selbstverständnis betreffen. Dann wird es wieder philosophisch. Auch am Biologicum. (fvk)