Tagezeitung

Wir sind beeindruckt

Das ist provokant: Eine Seite 1 nur mit Text gefüllt. Mit einem Leitartikel und einer Meldung. Und sonst nichts. Kein grafisches Element, kein Aufmacherfoto, nicht einmal eine Karikatur, stattdessen geballte Information. In die Tiefe gehend, Standpunkte formulierend. So gibt sich die Neue Zürcher Zeitung jeden Samstag. Fast, als hätte sich seit 1780, ihrem Gründungsjahr, nichts Wesentliches verändert.

Dem ist natürlich nicht so. Ganz im Gegenteil. Allenthalben leiden gedruckte Zeitungen unter Leserschwund und digitalem Konkurrenzdruck. Schnell soll die Information verfügbar sein, im Wisch-und-weg-Modus sowie appetitlich portioniert. Konsumierbar im Vorübergehen. News to go, gewissermaßen.

© Julia Sabiniarz / unsplash.com

© Julia Sabiniarz / unsplash.com

Notabene gratis.

Kein Zeitungshaus, welches darunter nicht gelitten hätte oder immer noch leidet. Reihenweise verabschieden sich Titel aus unserem Alltag, manche leise und unauffällig. Andere wieder nach zahllosen Anläufen sich neu zu erfinden, als Internet auf Papier oder als auf Krawall gebürstetes Skandal- und Revolverblatt. In rauen Mengen freihand verteilt im öffentlichen Raum. Schnell überflogen, schnell vergessen. Ein hektisches Aufbäumen gegen das Unabwendbare, den Verlust der einstigen Position.

Print ist tot, formulierte vor Jahren wieder und immer wieder Terence Lennox, das grandios-bissige alter ego des Wiener Fotografenautors Manfred Klimek.

Und nun das: Die Tageszeitung lebt.

Gut, das ist ein wenig zu allgemein. Etwas zu positiv gestimmt. Formulieren wir es präziser. Die traditionsreichen Tageszeitungen leben wieder auf. Es sind die alten Damen, die sich ihrer Stärken besinnen, ihrer Krisen, die sie bereits durchlebt haben, ihrer Möglichkeiten. Die Neue Zürcher als unbeirrbar distanziertes Blatt, zum Beispiel. Wider die unentwegte Aufgeregtheit der Welt und stets alles im Blick.

Dazu eine Anekdote. Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fällt und weltweit Schlagzeilen nach sich zieht, da würdigt die NZZ das Ereignis lediglich mit einer kurzen Meldung auf Seite 1. Es sei absehbar gewesen, erklären die zuständigen Redakteure später, mithin für jeden versierten Beobachter alles andere als eine Überraschung. Und eben keine Schlagzeile wert. Das ist zeitungsgewordener Stoizismus. Daran hat sich nichts verändert.

© Kevin Grieve / unsplash.com

© Kevin Grieve / unsplash.com

Dem Guardian liegt die Ruhe hingegen gar nicht im Blut, so wenig wie seinem Publikum. 1821 in Manchester gründet, schlägt er sich verlässlich auf die Seite der werktätigen Massen, versteht sich in jeder Hinsicht als kritisches, linksliberales Blatt, durchaus als Plattform großer Kampagnen.

Er insistiert, untersucht, gräbt tief und fragt nach. Die NSA-Affäre, die Paradise-Papers, die Privatkorrespondenz von Prinz Charles ebenso wie die Verwerfungen innerhalb der Labour Party sind seine Themen. Und noch viel mehr. Er ist ein, er ist das streibare Kultur- und Debattenblatt, provokant und Pulitzerpreisgekrönt.

Das verleiht Glaubwürdigkeit, die wichtigste Währung im Verhältnis zu den Lesern. Für den Guardian geradezu überlebensnotwendig, denn seine Printausgabe wird nur 140.000-Mal verkauft und erreicht in Großbritannien gerade mal 780.000 Leser. Längst lebt das Blatt von seiner Onlinepräsenz, längst ist die digitale Ausgabe zu einem globalen Blatt geworden, zum Umsatzträger dank freiwilliger Spenden hunderttausender Leser. Und längst schon wurde die Printausgabe geschrumpft, aufs handlichere Tabloid-Format, bunt und dick und durchaus laut.

Das unbedingte Entweder-Oder, Print oder Digital, das gilt nicht mehr. Die Vorteile und Möglichkeiten des Publizierens online stehen außer Diskussion. Die gedruckte Tageszeitung wird mithin zu einer Haltungsfrage, ja, auch zu einem Statement gegenüber sich selbst und der Welt. Wer eine Zeitung zu Hand nimmt, wer sich auf das haptische und auch immer noch olfaktorische Erlebnis einlässt, wer zwischen den Seiten und in den Nachrichten versinkt, kommt in den Genuss einer höchst konzentrierten kognitiven Aufnahme. Es ist hinlänglich und wissenschaftlich fundiert erwiesen, dass was auf Papier gelesen besser verstanden und gemerkt wird. Die gedruckte Tageszeitung als Halt in der Welt, sie besser zu verstehen.

Daran arbeiten nicht weniger als 1.400 Redakteure und Redakteurinnen im von Renzo Piano gestalteten New York Times-Tower in Manhattan. Dazu gesellen sich noch rund 100 Männer und Frauen in der Meinungsredaktion, denn nichts trennt die 1851 gegründete NYT strikter als Meldung und Kommentar.

Und kaum eine andere Zeitung verlangt von ihren Lesern einen Kommentar von Seite 1 auf Seite 10, die Aufmachergeschichte auf Seite 3 im Blattinneren fertigzulesen, weshalb man beim Blättern schon einen Eindruck von all dem erhält, was einen noch in diesem Weltblatt erwartet.

Und ein Weltblatt ist sie, die New York Times. Eine Ikone. Rank und schlank und hochgewachsen in ihrem Format, nur eben etwas eigenwillig in der Leserführung, aber ein Genuss. Ein Blatt, mit dem man sich gerne auch nur schmücken wollte, sozusagen als Accessoire. Sie atmet auf eine ganz spezielle Art und Weise Eleganz und Weltläufigkeit, sie ist wie ein Versprechen darauf, dass alles sich klären wird. Weshalb sie eben kein harmloser Gegenstand der Mode ist, als vielmehr einer der demokratischen Debatte, des versierten Diskurses, der fundierten und überlegten Kritik, die nichts und niemanden ausnimmt. Und deren sprachliche Brillanz sich eben gerade auf den gedruckten Seiten so unwahrscheinlich eindrucksvoller ausnimmt als im digitalen Kleid (wiewohl die NYT längst schon die Potentiale digitalen Erzählens und Publizierens ausschöpft).

Es ist mit den gedruckten Exemplaren etwas Widersprüchliches. Nichts, so das Sprichwort, ist so alt wie die Tageszeitung von gestern. Das war vor 100 Jahren schon richtig, das hat in Zeiten von Radio und TV noch mehr an Geltung gewonnen, das stimmt in Zeiten digitaler Information noch viel mehr. Trotzalledem hält sich das Druckwerk hartnäckig und will und will nicht einfach weichen.

Aus gutem Grund. Jedes Zeitungsexemplar wird im öffentlichen Raum auch wahrgenommen. Das Kleinformat geradeso wie die, im Wortsinn, großen Blätter. Hier konkurrieren sie um Aufmerksamkeit, um Anerkennung und Debattenhoheit. Sie sind eine tagtägliche plakative Demonstration einer bestimmten Haltung gegenüber der Welt, nicht notwendigerweise politisch simpel auf links oder rechts gestrickt, als vielmehr in Hinblick darauf, wie differenziert das Zeitgeschehen wahrgenommen wird. Selbst wenn der Leser dann hinter dem Blatt zu verschwinden scheint.

© Andris Romanovskis / unsplash.com

© Andris Romanovskis / unsplash.com

Ein erprobtes Sujet, nebenbei bemerkt. Ein Mensch, der hinter seiner Zeitung verschwindet, zuordenbar nur durch die Umgebung. Aber wichtig und zentral die Botschaft, dass dahinter, hinter dem Großformat und damit hinter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein kluger Kopf steckt. Was sonst?

Ausgerechnet die konservative, die große bürgerliche Zeitung Deutschlands hat sich früh schon als innovativ erwiesen. Ihr Feuilleton als Tummelplatz freier Geister und das ganze Blatt als Statement Frank Schirrmachers, der, als Craig Venter das menschliche Genom entziffert, die ganze lange Buchstabensuppe abdrucken lässt. Und damit ganz en passant verkündet, dass nun neue Zeiten anbrechen, Zeiten, in denen kein Stein auf dem anderen bleiben wird.

Wo die New York Times in die Höhe strebt, der Guardian Stellung bezieht und die NZZ sich in Äquidistanz übt, da geht die FAZ lustvoll in die volle Breite der aktuellen Debatten, wortgewaltig, stilerprobt und unverblümt.

Das alles geht auf Papier tatsächlich besser. Es hat mehr Gewicht. Es sorgt für ein Rauschen im Blätterwald, für das Knistern in der Auseinandersetzung, für ein sattes Flapp um ein Argument zu unterstreichen. Es ist schwarz auf weiß festgehalten, bereit, abgelegt zu werden, in Büchern zu verschwinden um nach Jahren vergilbt aber immer noch erhellend wiederaufzutauchen. Eine Rezension, gar von Marcel Reich-Ranicki, verliert nicht über die Jahre, sie gewinnt.

Sich neu zu definieren in Zeiten des Wandels, das ist der Wiener Zeitung geradezu in Fleisch und Blut übergegangen. 1703 gegründet, als Wiener Diarium, gilt sie als die älteste noch existierende Tageszeitung der Welt. Gleichzeitig ist sie das offizielle Organ der Republik Österreich, Ort aller Pflichtveröffentlichungen, geschmäht als Beamtenblatt, als dröge, fade und entbehrlich. Tatsächlich steht sie unter Druck, sich ganz und gar frisch zu etablieren, wirtschaftlich solide – ohne die bisher garantierte Einnahmequelle. Sie tut es dezent, als sie, ganz wie die anderen großen alten Damen der Zeitungswelt, den Gedanken Raum gibt. Ruhig und gelassen, fundiert und ausgewogen, wie es von ihr erwartet wird. Ein Blatt, das über die Jahre zu einem Debattenblatt geworden ist, mit Hintergrund und Sachverstand. Online gerade einmal in Sparversion vorhanden, aber vielleicht auch gerade deswegen für Überraschungen gut.

Um noch einmal auf Terence Lennox zurückzukommen: Im April dieses Jahres meldete er sich auf Einladung der Redaktion via derstandard.at zu Wort und konstatierte eine Sehnsucht nach dem Analogen: „Denn das Analoge wird das Besondere sein, das Alleinstehende, das Singuläre, das die Person auszeichnet, die es im Gebrauch hat und diesen Gebrauch lebt. Print lebt also.“  Dem ist nichts hinzuzufügen. (FKSK)

 

Dieser Artikel erschien zuerst im Diners Club Magazin, Ausgabe 3/2019