Seuche

Der Syphilis’ Folgen

Singen will ich heut und sagen,
wie einst durch des Schicksals Mächte
Jener Same ward gesäet
Einer Krankheit, die gar seltsam
Ferne Zeiten nie gesehen
Aber heute ganz Europa,
Asien, das ferne Libyen,
Hat durchwütet; wie die Seuche
Ihren Namen hat empfangen
Durch die Gallier, die damals
– Schreckenvollen Krieges Folge –
Latium damit beglückten.

Mit diesen Worten eröffnet Girolamo Fracastoro, Arzt und Humanist, den Gesang Syphilides sive morbi gallici libris tres, „Drei Bücher von der Syphilis oder der gallischen Krankheit“. Im Frühjahr 1494 zieht Frankreichs König Karl VIII. mit seinen Truppen nach Italien, um seine Erbansprüche auf Neapel durchzusetzen. Seinem Söldnerheer gehören ebenso wie jenem seines Gegners, des Königs Ferdinand von Neapel, Landsknechte aus Spanien an, dazu allerlei Kriegsvolk aus ganz Europa. Doch es sind die Spanier, die die Krankheit in sich tragen, die 1495 vor Neapel auf einmal ausbricht und sich innerhalb kürzester Zeit über ganz Europa verbreitet.

Albrecht Dürer: Darstellung eines Syphilitikers (1496)

Albrecht Dürer: Darstellung eines Syphilitikers (1496)

Es sollen die Matrosen des Christoph Columbus gewesen sein, die 1493 die Lues oder Syphilis von Westindien nach Spanien einschleppen, wo die Krankheit seither immer wieder aufflammt. Noch ist sie ein lokales Phänomen. Der Feldzug Karls VIII. trägt zu ihrer rasanten Verbreitung bei.

Nach dem Fall Neapels 1495 vereinen sich die beiden Heere und feiern gemeinsam ein achtzig Tage dauerndes Fest. Im Februar und März erkranken nicht nur Soldaten und Huren, es erkranken alle Bevölkerungsschichten, zuerst wird Neapel erfasst, dann, in rascher Folge, die anderen italienischen Städte.

Die Symptome der Lues sind seither mehr oder minder die gleichen geblieben. Im ersten Stadium tritt zwei bis drei Wochen nach der Infektion ein gerötetes Geschwür auf, das eine farblose Flüssigkeit absondert, damit gehen Schwellungen der umliegenden Lymphknoten einher. Beide Symptome aber klingen bald wieder ab und werden oft nicht als erste Warnzeichen erkannt.

Im zweiten Stadium, das ein bis zwei Monate oder auch erst ein bis zwei Jahre nach der Infektion eintritt, kommt es zu Hautausschlägen, bisweilen Haarausfall und Fieber. Auch diese Symptome verschwinden wieder, ohne dass sie behandelt werden.

Im dritten Stadium, das oft erst nach langer Latenzzeit ausbricht, kommt es zu dauerhaften Organschädigungen im Verbund mit Kreislauf- oder Knochenschäden. Begleitend dazu kann es infolge des rasch fortschreitenden Abbaus von Hirn- und Rückenmarkgewebe zu psychischen Veränderungen kommen.

Im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert geht der Krankheitsverlauf ungleich schneller vor sich, ist in seinen Auswirkungen dramatischer und drastischer. Eine florentinische Chronik berichtet über die „französische Krätze“, das sie „heftige Schmerzen verursacht, dauert acht bis zehn Monate, verbreitet sich im Laufe eines Jahres über den ganzen Körper nach Art einer schweren Krätze und unter einem pockenähnlichen Ausschlag, ist mit einem üblen Geruch der Verderbnis und Entstellung des davon ergriffenen Körpers verbunden“.

Dass sie eine schwere Allgemeinerkrankung ist, dass sie sich so schnell – entlang der Flussläufe mit einer Geschwindigkeit von 50 Kilometern pro Tag – über den gesamten Kontinent verbreitet, deutet darauf hin, dass es sich bei der Lues tatsächlich um eine neue Krankheit handelt.

So rasant sie sich ausbreitet und Europa in Angst und Schrecken versetzt, so viele Namen hat. In Deutschland, Spanien, Polen und Italien nennt man sie die „Französische Krankheit“, die Franzosen sprechen von der „Neapolitanischen Krankheit“, bei den Briten ist sie als „Französische“, bei den Schotten als die „Englische Krankheit“ bekannt. Die Russen bezeichnen sie als die „Polnische“ und die Türken als die „Christliche Krankheit“.

Ebenso wird sie nach ihrem Erscheinungsbild benannt, als Morbus pustulae oder als Pustulae obscoenae. Andere wieder geben ihr biblische Namen, orientieren sich an Hiob oder Rochus. Genauso wie mit Lues venera oder Lues aphrodisiaca auf die vermuteten Ursachen eingegangen wird.

Tizian: Girolamo Fracastoro (1477-1553)

Tizian: Girolamo Fracastoro (1477-1553)

Die Bezeichnung „Syphilis“ wird erst durch Girolamo Fracastoro geprägt, durch den Helden seines Liedes, den Hirten Syphilus. Als Dichter sieht Fracastoro den Ursprung gleichsam in einem Fluch der indigenen Völker Amerikas als Rache für die Freveltaten der Europäer.

Über das Warum der Seuche wird ebenso eifrig nachgedacht wie Namen ersonnen werden. Die Humoralpathologen sehen ein Übermaß an schwarzer Galle als Auslöser. Die astrologische Theorie der Alchemisten ist die am weitesten verbreitete; sie sieht in der nur alle 500 Jahre wiederkehrenden Konjunktion des Saturns und des Jupiters vom 25. November 1484 im Zeichen des Skorpions und im Haus des Mars ihren astralen Ursprung.

Die theologische Theorie wiederum hält sich bis in das 20. Jahrhundert und wird im Fall der Immunschwäche Aids wieder bemüht. Demnach ist die Syphilis eine Strafe Gottes für Verfehlungen der Menschen in ihrem Sexualleben. Umso mehr als sie – das wird alsbald erkannt – durch Geschlechtsverkehr übertragen wird.

Joseph Grünpeck: Das Christuskind straft die Menschheit mit Syphilis (1496)

Joseph Grünpeck: Das Christuskind straft die Menschheit mit Syphilis (1496)

Doch schon damals bleibt diese Theorie nicht unwidersprochen. Der Berliner Medizinhistoriker Rolf Winau zitiert in einem Artikel zur Geschichte der Syphilis die frühneuzeitlichen Kritiker folgendermaßen: „Einige beziehen die Ursache dieser Krankheit auf Gott, der diese Krankheit geschickt habe, da er will, dass die Menschen die Sünde der Unzucht vermeiden. Deswegen verband er mit dem Beischlaf solche Gefahren, dass manche diese Krankheit die ,Göttliche‘ genannt haben. Und warum, wenn Gott gegen die Unzucht losgefahren ist, warum ist er es nicht gegen die Wucherer, Wegelagerer, Räuber und Mörder, die doch viel grausigere Missetaten begehen als die, die den Beischlaf ausüben. Denn der Geschlechtsgenuss ist für jedermann eine natürliche Sache [...] Lasst uns als wie Hippokrates in seinem Buch über die heilige Krankheit sagen, dass diese Krankheit nicht heiliger sei als alle anderen.“

Es bleibt Girolamo Fracastoro überlassen, als Erster die Vorstellung, dass die Syphilis durch einen Krankheitserreger, einen Keim, übertragen wird, zu formulieren. In seiner 1546 erscheinenden Schrift De contagionibus et contagiosis morbis et eorum curatione libri tres, „Drei Bücher von den Kontagien, den ansteckenden Krankheiten und deren Behandlung“, überlegt er, pb nicht konkrete „Krankheitssamen“ für die Krankheit verantwortlich sein könnten. Vier verschiedene Wege der Übertragung skizziert Fracastoro, den direkten Kontakt, durch die Luft, die Tröpfcheninfektion und durch Gegenstände, die den Krankheitssamen tragen.

Doch alle Erklärungsversuche über Herkunft und Grund der Syphilis beantworten eine Frage nicht: Wie der Seuche Herr werden?

Wie keine Krankheit vor und nach ihr verändert sie die Sexualmoral Europas. Waren bis dahin Badehäuser und Badekultur hoch entwickelt, galten Amouren als akzeptabel, sogar der Besuch eines Freudenhauses als die natürlichste Sache der Welt, die vor aller Augen vonstatten gehen konnte, so ändert sich all das jetzt. Die Badekultur verschwindet (mit dramatischen Auswirkungen für die öffentliche Hygiene), die Sexualmoral wird rigide. Europa wird prüde. (fksk)