Orca

Lulu – Tod eines Orcas

Ich habe sie gesehen, Lulu, eine der Orcas der – in Großbritannien, zumal in Schottland – legendären „West-Coast-Community“. Ich habe ihre Rückenfinne gesehen, ihren Rücken, ihren Körper, der wieder und wieder durch die Wellen vor der Isle of Skye gebrochen ist. Und ich war glücklich.

Orcas © Frank Busch / Unsplash.com

Orcas © Frank Busch / Unsplash.com

Auch weil ich wusste, dass es ein Privileg war, diese Tiere zu sehen. Im Frühherbst 2013 erklärte mir die Meeresbiologin Olivia Harries, dass die Reproduktionsrate der Herde zu gering sei, als dass das Überleben dieser Gruppe auf lange Sicht gesichert sei. Vor allem aber: Die Tiere seien allesamt hochgradig vergiftet. Die Forscher wüssten, dass die Orca extrem hohe Konzentrationen an PCB (Polychlorierte Biphenyle – einer hochtoxischen und krebserregenden organischen Chlorverbindung) in ihrem Blubber aufwiesen. Das sei bei toten Exemplaren nachgewiesen worden. „Sie sterben aus“, Olivia Harries machte keine großen Worte darum. Die Trauer darüber war dennoch spürbar.

Im Jänner 2017 wurde Lulu tot am Strand von Tiree aufgefunden. Sie hatte sich in Leinen von Lobsterkäfigen verfangen und nicht mehr befreien können. Trotzdem wurde eine Untersuchung angeordnet. Die Ergebnisse wurden dieser Tage öffentlich gemacht.

Demnach ist die 20 Jahre alte Lulu, der am „stärksten vergiftete Meeressäuger“, den britische Wissenschaftler je zu obduzieren hatten. Lulus Blubber wies 950 Milligramm PCB pro Kilo auf – der Grenzwert liegt bei neun Milligramm PCB pro Kilo. Ab diesem Wert kann es zu nachhaltigen Schädigungen der Tiere kommen.

Das erklärt möglichweise auch, weshalb Lulu trotz ihrer 20 Jahre nie ein Kalb geboren hat. Und es erklärt wohl auch, weshalb die „West-Coast-Community“ nicht mehr den Hauch einer Chance hat zu überleben.

Ich habe Lulu gesehen. Für kurze Zeit nur.

Lulu vor der Isle of Skye © Privat

Lulu vor der Isle of Skye © Privat

Der Herbst kam früh 2013, mit Windstärke 9 von Süd-Südwest fegte er schon Ende August durch die Inselwelt der Hebriden an der Westküste Schottlands. Er wühlte die See auf, brachte Regen mit sich und Kälte. Es ist dann nicht gerade einfach, an Deck der „Silurian“ vorne am Mast zu stehen und zwischen den Wogen, inmitten von Gischt und Brechern die Finnen von Schweinswalen auszumachen und zu melden. Oder die von Riesenhaien, von Tümmlern oder gar von Orcas. Doch gerade aus diesem Grund stehen zwei Expeditionsteilnehmer am Mast, gesichert durch eine Leine, und halten sich fest. Durchforsten die aufgewühlte See nach Sichtungen, die sie weitergeben.

Sie sind Freiwillige. Im zivilen Leben gehen sie in London, Chicago oder Cambridge ganz normalen Berufen nach. Sitzen in Büros, arbeiten in Spitälern, fallen nicht weiter auf. Jetzt finden sie sich, in Ölzeug gehüllt, mit warmen Handschuhen und Mützen ausstaffiert, auf See wieder. Als Teil eines großen Projekts.

Die Gewässer im Blick © Privat

Die Gewässer im Blick © Privat

Die Hebriden sind eine Welt für sich. Dank ihrer Inseln, der verschiedenen Meeresströmungen, die hier aufeinandertreffen, ihrer Abgelegenheit. Und dank ihrer Tierwelt. Zwischen der Isle of Mull und der Isle of Skye tummeln sich so viele Schweinswale wie kaum sonst wo in europäischen Gewässern. Heimisch sind auch Riesenhaie, Planktonfresser wie der Walhai, dem sie an Größe nur um Weniges nachstehen. Minkwale ziehen durch die nährstoffreichen Gewässer. Und Orca. Nicht irgendwelche, sondern eine eigene Gruppe. Die „West-Coast-Community“, neun Tiere, größer als alle anderen Orca dieser Welt, mit einer eigenen Zeichnung, sogar mit einer eigenen „Sprache“ – und eben wegen dieser unfähig mit anderen Artgenossen zu kommunizieren – und deswegen wohl dem Untergang geweiht. Tümmler und gemeine Delphine, Seehunde, Papageientaucher, Tölpel und Kormorane – die sind gleichsam die Zugabe.

Die Silurian vor Anker © Privat

Die Silurian vor Anker © Privat

Ein Idyll. Möchte man meinen. Doch die Hebriden sind zugleich eines der Zentren der schottischen Lachszucht mit riesigen Fischfarmen; in den Meeresarmen und Lochs reiht sich zudem Lobsterkäfig an Lobsterkäfig, und dann ist da noch die Royal Navy, die ausgerechnet hier Übungsgebiete eingerichtet hat. Für Manöver ihrer U-Boote, für das Testen von Torpedos. Kein einfaches Nebeneinander.

Aus diesem Grund ist die „Silurian“ im Auftrag des „Hebredian Whale and Dolphin Trusts“ unterwegs. Um Daten zu sammeln. Fundierte Aufzeichnungen über Sichtungen von Schweinswalen, Riesenhaien und Schwertwalen. Um ein Kataster über Fischfarmen und Lobsterkäfige anzulegen. Um hieb- und stichhaltige Argumente für ein Schutzgebiet zu sichern. Und das eben mit der Hilfe von Freiwilligen.

Der erste Tag an Bord der „Silurian“ dient der Eingewöhnung. Die Kojen sind eng, der Platz ist beschränkt, der Seegang ungewohnt, das Ölzeug noch nicht geliebt (das wird sich ändern, nichts hält Wind und Kälte so gut ab wie Ölzeug). Doch eigentlich interessiert nur, wie man die Meeressäuger und den Riesenhai erkennt. „An ihrer Finne“, erklärt Olivia. „An der Art, wie sie sich durch das Wasser bewegen. Schweinswale rollen durch die Wogen. Man sieht nur ihren Rücken. Delphine und Tümmler tauchen auf, ebenso Orca. Von den Riesenhaien werden wir nur die Rückenflossen sehen – falls wir sie sehen.“

Lulu vor der Isle of Skye © Privat

Lulu vor der Isle of Skye © Privat

Dieser Vorbehalt ist wichtig. Eine Expedition, eine Forschungsfahrt ist kein „Whalewatching-Trip“. Es geht darum, zu dokumentieren. Den Tieren wird mit Respekt – und Abstand – begegnet. Nicht das Erleben an sich steht im Vordergrund, sondern die Arbeit.

In den kommenden Tagen werden die Menschen an Bord noch etwas erkennen. Diese Fahrt ist auch eine Exkursion an die eigenen Grenzen. Privatsphäre gibt es nicht. Es gilt, sich zu arrangieren. Das Leben an Bord funktioniert nur, wenn alle zusammenhalten, untereinander loyal sind. Der tägliche Dienstplan ist auf Punkt und Strich einzuhalten. Eines muss präzise in das andere übergreifen. Ausnahmslos.

„Sighting! Bearing 90 degrees. Distance 100 metres. Heading 30 degrees“, zu Deutsch: „Sichtung! Höhe 90 Grad, Entfernung 100 Meter, Kurs 30 Grad“, solcherart melden sich die Beobachter am Mast. Und nennen noch das Tier. Zumeist den Schweinswal.

Doch am zweiten Tag, als die „Silurian“ Kurs auf die Isle of Skye nimmt, sind es keine Schweinswale, die da auftauchen. Es sind – Schwertwale. Drei Tiere der West-Coast-Community. Aquarius, Comet und Lulu.

Hektik. Aufregung. Alles stürmt an Bord. Der Computer ist verwaist. Die Disziplin geht flöten. Kameras klicken. Nur Skipper James bewahrt Ruhe, ändert den Kurs, folgt nun den drei Schwertwalen. Ihren Rückenfinnen, die wie gewaltige Aufbauten ein ums andere Mal aus dem Wasser auftauchen. Niemand ruft, keiner sagt etwas. Alle schauen nur. Beobachten. Und Olivia strahlt vor Glück.

Es ist die erste Sichtung in diesem Jahr.

Die „Silurian“ begleitet die drei gut eine Stunde, dann dreht sie ab und geht zurück auf den ursprünglichen Kurs. Die Routine greift wieder. Jeder nimmt seinen Platz ein. Die Beobachter am Mast melden anstelle von Walen oder Delphinen nun auch wieder die Lage der Lobsterkäfige – erkenntlich an ihren Bojen.

Comet und Aquarius © Privat

Comet und Aquarius © Privat

Ein paar Monate zuvor machte sich John Coe, ein weiteres Mitglied der West-Coast-Community auf den Weg an die schottische Ostküste. Prompt wurde die Einzigartigkeit der kleinen Gruppe in Frage gestellt. Für Olivia Harries ist das eine ärgerliche Debatte. Wird die Besonderheit der Hebriden in Frage gestellt, dann auch das Projekt eines Schutzgebietes.

„Es ist einfach so, dass wir über Meeressäuger noch immer so gut wie nichts wissen“, erklärt sie am Abend. „Nehmen wir die Minkwale. Ursprünglich ist man davon ausgegangen, dass sie immer wieder zu denselben Gebieten zurückkehren. Inzwischen vermuten wir aber, dass sie rund um den Globus wandern. Ein Minkwal, der vor der Isle of Skye gesichtet wird, kann ein paar Monate später vor den Kanaren auftauchen und wieder ein paar Jahre später im Pazifik. Wir wissen im Grunde nichts über sie. Wir wissen nur, dass die Hebriden eines ihrer bevorzugten Gebiete sind.“

Eines mit Fallstricken. Im wahrsten Sinn des Wortes. Die Lobsterkäfige sind über Seile mit Bojen verbunden. Verfangen Minkwale sich nun in diesen Seilen, beginnen sie sich um die eigene Achse zu drehen. Bis sie verschnürt und bewegungsunfähig sind. „Wir hatten einen Fall, bei dem ein Minkwal so eingeschnürt auf dem Rücken zu liegen kam“, erinnert sich Olivia. Das Atemloch war unter Wasser ...

Das ist auch nicht im Sinne der Lobsterfischer. „Unser Verhältnis zu ihnen ist sehr gut“, so die Meeresbiologin. „Wir geben ihnen Tipps, wie sie derartige Unfälle verhindern können. Wir beraten auch die Fischfarmen, wenn es um den Schutz ihrer Lachse geht. Seehunde lieben Lachse und brechen die Käfige mit Leichtigkeit auf.“ Nein, die Farmer und Fischer sind keine Gegner. Sie wissen um den Wert der Tierwelt.

Problematischer ist da die Sache mit dem Lärm. Mit dem Sonar der U-Boote, der Detonation der Torpedos. Ein Höllenlärm in den Ohren der Meeressäuger. Dazu kommen noch das Stampfen und Schrauben der Fähren und Frachter, die Motoren der Fischtrawler, akustische Abwehrsignale der Fischfarmen – unter Wasser herrscht alles andere als Ruhe. Auch das sollte sich bessern. Wenn erst das Schutzgebiet seine Wirkung entfaltet.

Hebridenidyll © Privat

Hebridenidyll © Privat

An Bord wird es einstweilen immer rauer. Der Wind frischt auf. Die monotone Stimme des BBC-Shipping-Weather verkündet für den Inneren Sund „South-southwesterly wind, galeforce 9 becoming 10, drizzle becoming rain, poor visibility“. Die britischen Teilnehmer meinen, dass sie das ansonsten am Sonntag in der Früh hören, sich dann noch einmal umdrehen und denken, wie gut es ist, dass sie nicht selbst da draußen auf See sind. Jetzt aber sind sie auf See.

Am Loch Gairloch erreicht die „Silurian“ den nördlichsten Punkt der Reise. Von der Querung zu den Äußeren Hebriden sehen Olivia und James ab. Das würde zu rau, ruppig und holprig. So geht es wieder nach Süden. Mit der Flut gegen die Strömung, gegen Wind und Wetter.

Nach zehn Tagen läuft die Forschungsyacht wieder in den Hafen von Tobermory ein. 366,9 Seemeilen (fast 680 Kilometer) liegen hinter ihr, 28 Sichtungen von 71 Meeressäugern wurden von den Biosphere-Freiwilligen dokumentiert – und über 600 Positionen von Lobsterkäfigen.

Die Konzentrationen an PCB in Meeressäugern waren 2013 nur ein Thema am Rande. Das sollte sich jetzt ändern. Denn wenngleich die Verbindung (die als Weichmacher in Lacken, Dichtungsmassen und Isoliermaterialienseit eingesetzt wurde) den 80er Jahren nicht mehr verwendet wird, ihre Rückstände sind in den Weltmeeren allgegenwärtig. Lulus Tod und das Vergehen der „West-Coast-Community“ belegen, dass es hoch an der Zeit ist, sich dieses Problems anzunehmen – gegen toxische Stoffe sind Schutzgebiete machtlos. (fvk)

Trügerisches Idyll © Privat

Trügerisches Idyll © Privat

Die ursprüngliche Reportage über die Expedition in die Hebriden erschien in der Oktober-Ausgabe des Universum Magazins 2013. Die Reise erfolgte auf Einladung von Biosphere Expeditions.